Matthias Reinstadler stammt ursprünglich aus Sulden und zog 2008 in die Heimat seiner damaligen Partnerin, Schweden. Im selben Jahr kam auch ihre gemeinsame Tochter zur Welt. Reinstadler lebt seither in Stockholm, der Hauptstadt, und leitet mittlerweile das Service-Geschäft (Customer Service) des Uhrenkonzerns Swatch Group (u.a. Swatch, Rado, Omega, Tissot) in den Märkten Schweden, Finnland, Dänemark und Norwegen.<BR /><BR /><BR /><b>Hat das Thema Vereinbarkeit bei der Entscheidung Stockholm oder Südtirol eine Rolle gespielt?</b><BR />Reinstadler: Ganz eindeutig, ja. Rückblickend muss ich sagen, dass der gesamte Umzug sehr stressfrei war. Vom Beantragen der Steuernummer über die Arbeitssuche bis hin zur Eingewöhnung ging alles reibungslos, obwohl ich kein Wort Schwedisch sprach. Ähnlich war es bei der Suche nach Betreuungseinrichtungen für unsere Tochter. Das war digital und in wenigen Schritten erledigt. Der Aufwand war wirklich minimal – und das schon im Jahr 2008.<BR /><BR /><BR /><b> Was hat Sie am meisten beeindruckt – insbesondere in Bezug auf die Vereinbarkeit?</b><BR />Reinstadler: In Schweden merkt man, dass der Stellenwert der Familie extrem hoch ist. Die Grundüberzeugung lautet: „Elternsein ist nie einfach, aber es soll nicht unnötig erschwert werden.“ Der Staat sieht es als seine Aufgabe an, ideale Rahmenbedingungen für berufstätige Eltern zu schaffen. Die Unternehmen tragen ihren Teil dazu bei, was eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung erzeugt, die überall spürbar ist. <BR /><BR /><BR /><b> In Schweden zahlt der Staat heute 480 Tage, also 16 Monate, Elterngeld für jedes Kind…</b><BR />Reinstadler: Wobei 390 Tage Elternzeit mit 80 Prozent des Bruttolohns vergütet werden, für die restlichen 90 Tage gibt es eine geringere Pauschale. Ich habe 4 Monate am Stück Elternzeit genommen, um unsere Tochter täglich und rund um die Uhr zu begleiten. Mehr war leider aus finanziellen Gründen nicht möglich, da meine Freundin noch studierte.<BR /><BR /><BR /><b>Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?</b><BR />Reinstadler: Es war eine wundervolle Zeit. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich jeden Tag mit 4 oder 5 anderen Vätern in Elternzeit getroffen habe. Wir sind spazieren gegangen, haben Kaffee getrunken und uns über alles Mögliche ausgetauscht, was im Erziehungsalltag gerade wichtig war. Früher hätte man wohl gesagt, wir haben „Mami-Sachen“ gemacht.<BR /><BR /><BR /><b>In Schweden liegt der Anteil der Väter, die Elternzeit nehmen, bei fast der Hälfte.</b><BR />Reinstadler: Viele Väter fordern dieses Recht auch aktiv ein. Sie sind stolz darauf, sich gleichberechtigt an der Kindererziehung zu beteiligen. Das ist vielleicht auch anderswo so, aber die Rahmenbedingungen sind eben nicht überall wie in Schweden. Übrigens werden bei staatlichen Anträgen und Themen, die das Kind betreffen, immer beide Eltern informiert. Wenn eine Zustimmung erforderlich ist, wird sie von beiden eingeholt.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-69037416_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Ein häufiges Ärgernis für Südtiroler Eltern ist die Kinderbetreuung – mit teils zu geringen Kapazitäten, zu kurzen Öffnungszeiten und zu hohen Kosten. Kennen Sie ähnliche Probleme in Schweden?</b><BR />Reinstadler: Ich kenne sie von Erzählungen meiner Südtiroler Freunde. In Schweden richtet sich die Kinderbetreuung, vor allem vom Kleinkindbereich rede ich, nach den Anforderungen der berufstätigen Eltern. Das heißt, ich habe die volle Wahlfreiheit: Wenn ich will, kann ich mein Kind von 7 bis 19 Uhr in eine Betreuungsstätte bringen. Der Preis, den man für die Betreuung zahlen muss, ist eher symbolisch. Er liegt bei maximal 3 Prozent des Bruttolohns bei Höchstbeträgen von 135 Euro fürs erste und 90 Euro fürs zweite Kind. Diese Höchstbeträge erreichen wohlgemerkt nur Höchstverdiener. Es zahlt sich für berufstätige Eltern also finanziell immer aus, arbeiten zu gehen. Und ebenfalls wichtig: Die Betreuung steht in Schweden flächendeckend und ganzjährig zur Verfügung, auch in Ferienzeiten, wenn wir etwa ans Kindergarten- oder Grundschulalter denken. <BR /><BR /><BR /><b>Das dürfte für viele in Südtirol fast zu schön klingen, um wahr zu sein. Gibt es auch Schattenseiten dieses Systems?</b><BR />Reinstadler: In Schweden betrachtet sich der Staat gewissermaßen als Teil der Familie und sorgt für hervorragende Betreuungsangebote. Doch das hat auch eine Kehrseite: Der Draht zwischen den Generationen ist oft nicht so eng, wie wenn Großeltern regelmäßig auf die Enkel aufpassen. Es kommt dort viel seltener vor, dass man am Wochenende mit der erweiterten Familie zusammenkommt. Das finde ich schade und erlebe es in Südtirol anders. <BR /><BR /><BR /><b>Vereinbarkeit funktioniert nur, wenn auch die Unternehmen mitspielen. In Südtirol hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren vieles getan. Inwiefern fördern Unternehmen im Norden die Vereinbarkeit?</b><BR />Reinstadler: Der größte Unterschied, der sofort spürbar ist, ist sicher, dass in Schweden kein Arbeitgeber verwundert reagiert, wenn ein Vater nach Elternzeit fragt. Man informiert den Arbeitgeber mit etwas Vorlaufzeit, und das war’s. Es ist ganz normal und wird von allen zu 100 Prozent akzeptiert. Zudem bieten fast alle Unternehmen Teilzeitmöglichkeiten und flexible Arbeitszeiten mit definierten Kernzeiten an. Homeoffice ist ebenfalls gang und gäbe, und in Vorstellungsgesprächen wird dies vor allem von Bewerbern unter 45 Jahren als „Must“ genannt. Zudem sehe ich, dass Smart Working im Sinne eines grenzüberschreitenden Arbeitens zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dabei arbeitet jemand für ein schwedisches Unternehmen, aber temporär von einem Arbeitsplatz außerhalb Schwedens. Ein Problem, das dabei gelöst werden muss, ist das steuerliche, vor allem bei längeren Zeiträumen. Aber da wird sich in den nächsten Jahren sicher einiges tun. Schweden wird auf Lösungen mit anderen Ländern drängen, nicht zuletzt wegen des Arbeitskräftemangels, den es natürlich auch hier gibt.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-69037417_quote" /><BR /><BR /><BR /><b> Wie lange wird es dauern, bis wir in Südtirol schwedische Verhältnisse erreichen?</b><BR />Reinstadler: Ich muss sagen, dass sich die Gesellschaft in Südtirol in den letzten 15 bis 20 Jahren sehr verändert hat. Sie ist offener und moderner geworden. Bis zu 3-mal pro Jahr komme ich nach Sulden zurück und stelle fast jedes Mal Veränderungen fest. Für die nächste oder übernächste Generation wird es selbstverständlich sein, dass Väter und Mütter in Südtirol Elternzeit nehmen und es eine Gleichstellung der Geschlechter gibt – mit entsprechenden Auswirkungen auf Lohn- und Rentenunterschiede, die sukzessive kleiner werden. In Schweden sind diese Unterschiede übrigens auch noch nicht völlig verschwunden, aber sie sind auf jeden Fall kleiner.<BR /><BR /><BR /><b>Eine Gesellschaft braucht jedoch auch die nötigen Rahmenbedingungen vonseiten der Politik…</b><BR />Reinstadler: Genau, und weil der Druck von der gesellschaftlichen Mitte kommt, werden sich auch die politischen Rahmenbedingungen anpassen. Davon bin ich überzeugt. Es braucht nur ein wenig Zeit.<BR /><BR /><BR /><b>Könnten Sie sich vorstellen, wieder nach Südtirol zurückzukehren?</b><BR />Reinstadler: Meine neue Partnerin liebt Südtirol und meine Heimat wird immer Südtirol bleiben. Im Moment fühle ich mich aber sehr wohl in Stockholm und mit dem Leben, das ich mir hier aufgebaut habe.