Im Interview mit s+ erzählt Buchautor Luca Fregona, was den Meraner Emil Stocker (1929-2020) dazu brachte, als 20-Jähriger bei der Fremdenlegion anzuheuern, was er im Vietnamkrieg erlebte und warum ihn ein grausames Massaker für den Rest des Lebens beschäftigte. <BR /><BR /><BR /><b>Herr Fregona, wie sind Sie auf Emil Stocker gekommen?</b><BR />Luca Fregona: Ganz zufällig hat mir der Bruder eines Bozner Fremdenlegionärs, der bei der Schlacht von Dien Bien Phu ums Leben kam, von Emil Stocker erzählt. Er wusste nicht, ob Stocker noch lebte. Aber ich habe seinen Namen im Telefonbuch gefunden, ihn angerufen und dann mehrmals in Meran getroffen. Er war bereit, mir seine Geschichte zu erzählen. Er hat sich aber erst nach und nach geöffnet. <BR /><BR /><b>Wie haben Sie ihn erlebt?</b><BR />Fregona: Er wirkte außergewöhnlich hart, ich glaube, er war auch unglücklich. Am Anfang redete er wenig, er wich unbequemen Fragen aus, aber ich verstand sofort, dass er sich diese Erinnerungen von der Seele reden musste. Beim ersten Treffen brachte er 2 Fotoalben mit mehr als 1000 Aufnahmen mit, die er in den 4 Jahren in Vietnam machte. Ein außergewöhnliches Dokument! Im Laufe unserer Gespräche tauchten dann mehrere Erlebnisse auf, die ihn zutiefst gezeichnet hatten. <BR /><BR /><b>Was waren das für Erlebnisse?</b><BR />Fregona: Da war der Tod eines Kameraden in einem Dorf, das von einer Mine verwüstet wurde. Dann die Verschleppung eines jungen Vietnamesen aus der Familie. Als ihn einer der Beamten vergewaltigen wollte und sich dieser widersetzte, wurde er ermordet. Stocker war angewidert von dieser brutalen Gewalt auf beiden Seiten. Er sagte mir, dass niemals moralische Grundsätze respektiert wurden, von keiner Seite. <BR /><BR /><b>War Stocker auch Zeuge von Kriegsverbrechen?</b><BR />Fregona: Er war geradezu besessen von der Schlacht von Dien Bien Phu von März bis Mai 1954 mit rund 10.000 Gefallenen und 15.000 Verwundeten. Diese Schlag besiegelte die Niederlage der Franzosen im Indochina-Krieg. Von Stockers Kompanie mit 120 Mann haben nur 2 überlebt: er und ein anderer Kamerad. Den Rest seines Lebens hat Stocker irgendwie damit verbracht, die Hintergründe dieses Massakers zu analysieren. Das Bataillon wurde danach übrigens aus Respekt vor den Toten aufgelöst, Stocker war unter den Letzten, die Hanoi verließen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-55935579_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Wie hat er diese schrecklichen Erfahrungen verarbeitet?</b><BR />Fregona: Er war ein sehr komplexer Mensch, von Grund auf ein Soldat, der aber aufgrund seiner Erlebnisse in diesem Kriegseinsatz einen spirituellen Weg wählte, um einen Sinn zu finden. Ich erlebte ihn als sehr gebildeten Mann, der 5 oder 6 Sprachen beherrschte. Er hatte eine sehr harte Kindheit. Zur Mutter hatte er ein sehr schlechtes Verhältnis, sein Vater brachte ihm schon in der Kindheit den Umgang mit Waffen bei. Im Jahr 1941, mit nur 11 Jahren, wurde Stocker in die Schule von Rufach im Elsass geschickt, wo er von Männern der SS eine brutale Ausbildung erhielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Meran zurück, aber er fand keinen Platz in der Gesellschaft. Daher habe er das Einzige gemacht, was er beherrscht, erzählte er mir: Soldat werden. Im Jahr 1951 unterschrieb er in Innsbruck den Eintritt in die Fremdenlegion. <BR /><BR /><b>War Stocker selbst an Kriegsverbrechen beteiligt?</b><BR /> Fregona: Auf diese Frage antwortete er mir so: Wir waren keine Ministranten. Wir waren Soldaten. Im Krieg tötest du. Und du tötest, um nicht selbst getötet zu werden. Er sagte mir, dass er das Notwendige getan habe, aber dabei nie übertreiben wollte, sowohl gegenüber den vietnamesischen Partisanen als auch gegenüber den Legionären, die desertierten. Bei manchen Erzählungen schloss er die Augen und blieb dann still. Er war vor allem angewidert von der sexuellen Gewalt, bei der er Zeuge war und die er nicht verhindern konnte. <BR /><BR /><b>Wie war die letzte Begegnung?</b><BR /> Fregona: Wir trafen uns ein letztes Mal Mitte Februar 2020. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie ahnten wir beide, dass es das letzte Mal sein könnte. Tatsächlich erzählte er mir Details, die er bisher nicht ansprach. Und dann übergab er mir die 2 Fotoalben. Stocker hatte keine Erben, er wusste vom Buch und dass ich die Idee hatte, eine Ausstellung zu organisieren. In gewisser Weise hat er mir die Fotos anvertraut. Er starb am 24. März 2020 an Covid-19. Er war ein ehrlicher Mensch, wollte nicht sympathisch sein, er suchte keine Entschuldigungen für das, was er getan hatte. Mir flößte er großen Respekt ein. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-55934087_gallery" /><BR /><BR /><BR />DAS BUCH<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="808118_image" /></div> <BR />Von Südtirol in eine Hölle in 10.000 Kilometer Entfernung: In den Reihen der französischen Fremdenlegion kämpften auch mehrere Südtiroler im Vietnamkrieg (von 1955 bis 1975) mit. 3 dieser Söldner stellt der Bozner Journalist Luca Fregona in seinem Buch „Das vergessene Vietnam. Die Hölle im Indochinakrieg 1946-1954“ vor, das vor wenigen Wochen im Verlag Athesia-Tappeiner erschienen ist (304 Seiten, ca. 20 Euro). <BR /><BR />Fregona beschreibt, wie die 3 blutjungen Männer der Armut und Perspektivenlosigkeit in ihrer Heimat entkommen wollten, aber in einem der grausamsten Kriege des 20. Jahrhunderts landeten und dort auch selbst zu Tätern wurden. „Wir waren keine Ministranten. Wir waren Soldaten“, sagt Emil Stocker. Von ihm stammen übrigens zahlreiche Fotos für das Buch, denn Stocker durfte mit einer speziellen Erlaubnis auch Aufnahmen an und hinter der Front machen. <BR /><BR /><BR /><BR />