Während einige Beobachter auf einen raschen Waffenstillstand drängen, haben andere die Wichtigkeit betont, den russischen Angriffskrieg zu bestrafen. Letztlich jedoch wird das Ergebnis durch die Fakten am Boden bestimmt werden.<BR /><BR /> Da es zu früh ist, um auch nur Mutmaßungen darüber anzustellen, wie der Krieg enden wird, sind einige Schlussfolgerungen offensichtlich voreilig. Argumente etwa, dass die Ära der Panzerkriege vorbei sei, wurden mit der Verlagerung des Krieges aus den nördlichen Vororten Kiews auf die Ebenen des Donbass im Osten widerlegt.<BR /><BR />Doch selbst in diesem frühen Stadium gibt es mindestens 8 Lehren – einige alt, einige neu –, die die Welt aus dem Ukraine-Krieg ziehen (oder an die sie sich neu erinnern) kann.<h3> 1. Nukleare Abschreckung funktioniert</h3>Erstens funktioniert die nukleare Abschreckung, aber sie ist stärker davon abhängig, was für die verschiedenen Parteien relativ gesehen auf dem Spiel steht, als von den nuklearen Fähigkeiten. Der Westen wurde abgeschreckt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Putins Drohungen haben die Entsendung von Truppen (aber nicht militärischer Ausrüstung) durch die westlichen Regierungen in die Ukraine verhindert. Dieses Ergebnis spiegelt keine überlegenen russischen Nuklearkapazitäten wider, sondern vielmehr die Kluft zwischen Putins Einstufung der Ukraine als vitales nationales Interesse und der westlichen Einstufung der Ukraine als wichtiges, aber weniger vitales Interesse.<h3> 2. Wirtschaftliche Abhängigkeit verhindert keinen Krieg</h3>Zweitens verhindert wirtschaftliche Interdependenz keinen Krieg. Während diese Lehre früher weithin anerkannt wurde – insbesondere nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwischen den führenden Handelspartnern der Welt –, wurde sie von deutschen Politikern wie dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder ignoriert. Seine Regierung erhöhte die Importe und damit die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Womöglich hoffte sie, ein Bruch der Handelsbeziehungen wäre für beide Seiten zu kostspielig. Doch während wirtschaftliche Interdependenz die Kosten des Krieges erhöhen kann, verhindert sie ihn eindeutig nicht.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="780089_image" /></div> <h3> 3. Asymmetrische wirtschaftliche Abhängigkeit lässt sich von einer weniger abhängigen Partei als Waffe nutzen</h3>Drittens lässt sich eine asymmetrische wirtschaftliche Interdependenz von der weniger abhängigen Partei als Waffe nutzen, doch wenn für beide Seiten gleich viel auf dem Spiel steht, hat die Interdependenz wenig Bedeutung. Russland ist zur Finanzierung seines Krieges von den Einnahmen aus dem Energieexport abhängig, aber Europa ist zu abhängig von russischer Energie, um einen völligen Boykott umzusetzen. Die Energie-Interdependenz ist weitgehend symmetrisch. (Im Finanzbereich andererseits ist Russland anfälliger für westliche Sanktionen, die im Laufe der Zeit zunehmend schmerzen könnten.)<h3> 4. Sanktionen erhöhen Kosten für Angreifer, bestimmen aber keine kurzfristigen Ergebnisse</h3>Viertens können Sanktionen zwar die Kosten für Aggressoren erhöhen, aber die kurzfristigen Ergebnisse bestimmen sie nicht. CIA-Direktor William Burns (ein ehemaliger US-Botschafter in Russland) traf sich Berichten zufolge im vergangenen November mit Putin und warnte diesen – vergeblich –, dass eine Invasion Sanktionen auslösen würde. Putin mag bezweifelt haben, dass der Westen in der Frage der Sanktionen seine Einigkeit würde wahren können. (Andererseits hat der chinesische Präsident Xi Jinping Putin bisher nur begrenzte Unterstützung angeboten, obwohl er seine „grenzenlose“ Freundschaft zu Russland erklärt hatte – was womöglich durch seine Sorge begründet ist, dass sich China in US-Sekundärsanktionen verstricken könnte.)<h3> 5. Informationskrieg verändert die Lage</h3>Fünftens verändert der Informationskrieg die Lage. Wie John Arquilla (RAND) vor zwei Jahrzehnten gezeigt hat, ist das Ergebnis moderner Kriegsführung nicht allein davon abhängig, wessen Armee gewinnt, sondern auch, „wessen Story gewinnt“. Amerikas sorgfältige Veröffentlichungen nachrichtendienstlicher Erkenntnisse über Russlands militärische Planungen erwiesen sich als sehr wirksam dabei, Putins Narrative in Europa zu widerlegen, und sie trugen stark zur westlichen Solidarität bei, als die Invasion wie prognostiziert erfolgte.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="780092_image" /></div> <h3> 6. Harte Macht und Soft Power wichtig</h3>Sechstens sind sowohl „harte“ Macht als auch Soft Power wichtig. Während Zwang/Überredung kurzfristig überlegen ist, kann Soft Power langfristig einen Unterschied machen. „Smart Power“ ist die Fähigkeit, harte Macht und Soft Power so zu kombinieren, dass sie einander verstärken statt sich zu konterkarieren. Putin hat das versäumt. Russlands Brutalität in der Ukraine hat derartige Abscheu hervorgerufen, dass Deutschland sich endlich entschloss, die Gaspipeline Nord Stream 2 einzumotten – etwas, das selbst mehrjähriger Druck seitens der USA nicht vermocht hatte. <BR />Im Gegensatz dazu hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, ein ehemaliger Schauspieler, seine beruflich geschärften dramatischen Fertigkeiten genutzt, um ein attraktives Bild seines Landes zu malen. Damit verschaffte er ihm nicht nur Sympathie, sondern auch die militärische Ausrüstung, die für harte Macht unverzichtbar ist.<h3>7. Cyber-Kapazitäten kein Allheilmittel</h3>Siebtens sind Cyber-Kapazitäten kein Allheilmittel. Russland setzt seit mindestens 2015 Cyber-Waffen ein, um in das Stromnetz der Ukraine einzugreifen, und viele Analysten prognostizierten zu Beginn der Invasion einen Cyber-Blitzkrieg gegen die Infrastruktur und Behörden des Landes. Doch während es Berichten zufolge während des Krieges viele Cyberangriffe gegeben hat, hatte keiner davon einen breiter angelegten Einfluss auf das Geschehen. Als das Viasat-Satellitennetz gehackt wurde, konnte Selenskyj weiterhin durch die vielen kleinen, von Starlink zur Verfügung gestellten Satelliten mit dem weltweiten Publikum kommunizieren.<BR />Darüber hinaus hat sich mit Training und Erfahrung die ukrainische Cyber-Abwehr verbessert. Nach Kriegsbeginn ermöglichten kinetische Waffen den Befehlshabern schnellere Reaktionen, eine höhere Präzision und bessere Schadenseinschätzungen, als Cyber-Waffen es taten. Bei Cyber-Waffen weiß man nicht unbedingt, ob ein Angriff erfolgreich war oder abgewehrt werden konnte. Bei Explosivstoffen dagegen lassen sich die Auswirkungen erkennen, und der Schaden ist leichter zu bewerten.<BR /><BR /><embed id="dtext86-54774996_quote" /><BR /><BR />Die wichtigste Lehre schließlich ist zugleich eine der ältesten: Krieg ist unvorhersehbar. Wie Shakespeare vor über 400 Jahren schrieb: „mit des Herrschers Ton Mord rufen und des Krieges Hund’ entfesseln“ ist riskant. Das Versprechen eines kurzen Krieges ist eine gefährliche Versuchung. Im August 1914 erwarteten die europäischen Führer bekanntlich, dass die Truppen „bis Weihnachten wieder zu Hause sind“. Stattdessen entfesselten sie einen 4 Jahre währenden Krieg, und 4 dieser Führer verloren ihren Thron. Unmittelbar nach dem US-Einmarsch im Irak 2003 prognostizierten in Washington viele einen Spaziergang („Auftrag ausgeführt“, war auf dem Banner eines Kriegsschiffs im Mai 2003 zu lesen), doch die Kampagne geriet ins Stocken und quälte sich noch Jahre lang fort.<BR /><BR />Diesmal ist es Putin, der die Hunde des Krieges von der Leine gelassen hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich gegen ihn wenden.<BR /><BR />Aus dem Englischen übersetzt von Jan Doolan<BR /><BR />DER AUTOR<BR /><BR />Joseph S. Nye ist Professor an der Universität Harvard und ehemaliger Abteilungsleiter im US-Verteidigungsministerium. Er ist der Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump (Oxford University Press, 2020).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR /><BR />