<b>STOL: Herr Müntefering, Sie werden am Montag an der Eurac Research in Bozen zum Thema „Wie selbstbestimmtes Leben im Alter gelingen kann“ reden. Nicht alle Personen altern gleich, zudem haben Personen verschiedener sozialer Schichten unterschiedliche Voraussetzungen. Wie also kann ein selbstbestimmtes Leben im Alter gelingen?</b><BR />Franz Müntefering: Einerseits spielt da der Staat eine Rolle, andererseits die Gesellschaft, aber auch die einzelne Person selbst. Der Staat muss in Bezug auf soziale Sicherheit und Mobilität Platz in der Gesellschaft für die älteren und die ganz alten Personen finden. <BR /><BR />Was das Individuum selbst anbelangt, so ist der Mensch zwar nicht allmächtig, aber er kann einiges dafür tun, dass er so gesund wie möglich älter wird. <BR /><BR />Und was die Gesellschaft anbelangt, so müssen Städte und Gemeinden den Senioren Dienstleistungen anbieten, damit sie gut leben können. Da gehören vor allem bestimmte Einrichtungen dazu, die man braucht: einen Supermarkt, eine Apotheke, einen Arzt. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-54493471_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Gerade die vergangenen 2 Pandemie-Jahre waren hart für die Senioren. Hat dies Spuren hinterlassen?</b><BR />Müntefering: Ja, und da gibt es auch noch einiges aufzuarbeiten. Wir müssen uns realistischerweise aber die Zahlen anschauen. Von den Personen über 70 in Deutschland sind rund 20 Prozent pflegebedürftig. <BR /><BR />Die meisten 80-Jährigen sind also noch auf Trab, sie sind in der Lage, für sich selbst zu sorgen und tun das auch. Und von den 20 Prozent Pflegebedürftigen leben 3 Viertel zuhause. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="773195_image" /></div> <BR /><BR />Es sind also um die 4 bis 5 Prozent der über 70-Jährigen, die in den Pflegeheimen sind. In den Heimen hatten wir das Problem, dass sie nicht eingerichtet waren für solche Situationen. Wie soll man dementen Personen erklären, dass sie nicht ins Freie, oder anderen Menschen nicht zu nahekommen dürfen? Und gleichzeitig durfte kein Besucher ins Heim hinein. <BR /><BR />Es ist zu Situationen gekommen, in denen Heiminsassen gestorben sind, ohne dass Verwandte in diesen Stunden bei ihnen sein konnten. Das waren Extremsituationen, wo ich der Meinung bin, dass man gesetzlich dafür sorgen muss, dass so etwas nicht wieder passieren kann. Menschen haben ein Recht darauf, sich in ihrer letzten Stunde zu begegnen. Würde das bei meinen Eltern oder nahen Verwandten passieren, würde ich da unbedingt hineinwollen, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich infiziere. Das waren Sachen, die nicht in Ordnung waren. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Was verstehen Sie unter einem selbstbestimmten Leben?</b><BR />Müntefering: Es gibt 3 „L“, an die man sich halten sollte: laufen, lernen und lachen. Ganz wichtig: Bewegung der Beine ernährt das Gehirn, man muss sich unbedingt sportlich betätigen. Zudem darf man nie aufhören, sich weiterzubilden, und was das Lachen anbelangt: Man darf sich nicht in den Problemen verlieren. Selbstbestimmtes Leben heißt für mich also, dass man durch sein eigenes Tun und Handel auch selbst mitbestimmen kann, wie man im Alter lebt. Man darf sich im Alter nicht zurücklehnen und auf den Staat verlassen. Man muss für sich selbst Verantwortung übernehmen. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-54493472_quote" /><BR /><BR /><BR /><b><BR />STOL: Für die jungen Generationen ist die digitale Welt eine Selbstverständlichkeit, ältere Personen tun sich schwer damit, viele fühlen sich sogar von der Gesellschaft ausgeschlossen…</b><BR />Müntefering: Das ist ein Problem. Ich merk das bei mir selbst. Ich bin ein Dilettant, was das anbelangt. Aber der Staat übertreibt es auch manchmal. Als ich vor über einem Jahr meinen ersten Hinweis bekam, dass ich mich gegen das Coronavirus impfen lassen kann, hätten sie mir das genauso gut auf Chinesisch sagen können. Ich habe da nichts verstanden, das war eine Zumutung. Und es geht vielen Personen in meinem Alter so. <BR /><BR />Bestimmte Angebote sollte der Staat altersgerecht aufbereiten, etwa bei der Bahn oder beim Arzt. Sonst schließt man einen Teil der Gesellschaft aus. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Welchen Stand haben die Senioren in der heutigen Gesellschaft im Vergleich zu früher?</b><BR />Müntefering: Ich würde sagen, einen besseren Stand. Das hängt mit unserem Sozialsystem zusammen. Es verändern sich gleichzeitig aber die Familienstrukturen: Familien haben weniger Kinder, die Kinder ziehen weg vom Land – in die Stadt. Das führt dazu, dass viele Senioren vereinsamen. <BR /><BR />Man möchte gar nicht meinen, wie hoch die Zahl jener älteren Personen ist, die alleine in ihrer Wohnung leben und nicht mehr imstande sind, soziale Kontakte aufzubauen. Dies führt dazu, dass in Deutschland täglich Dutzende Personen alleine in ihrer Wohnung sterben, ohne dass jemand Kenntnis davon nimmt. Man merkt erst, dass sie gestorben sind, wenn sich die Post stapelt oder es zu riechen anfängt. Das ist die Lebenswahrheit. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-54493473_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Sie sind jetzt 82 Jahre alt, waren Bundestagsabgeordneter, Bundesminister, SPD-Vorsitzender und Vize-Kanzler. Würden Sie unter den aktuellen Rahmenbedingungen noch einmal in die Politik gehen, wenn Sie jung wären?</b><BR />Müntefering: Die Zeiten haben sich komplett geändert. Als ich Minister war, kam über Telefon eine Journalistenanfrage ins Auto, ob ich zu einer bestimmten Sache Stellung nehmen könnte. Meine Antwort war immer: Ich will mich zuerst genau informieren, und am nächsten Tag werde ich dem Journalisten meine Stellungnahme geben. Das war damals in Ordnung, heutzutage wäre so etwas aber undenkbar. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="773198_image" /></div> <BR /><BR />Wenn ein Journalist heute von mir nicht sofort eine Antwort bekommt, dann ruft er eben jemand anderen an, der ihm etwas sagt, ganz egal, was dieser dann sagt. Die Journalisten haben es heutzutage ungleich schwerer, weil sie keinen Puffer mehr haben, sich Menschen zu suchen, die Bescheid wissen. Das führt manchmal zu Qualitätsverlusten. <BR /><BR />Und was die Politiker anbelangt, die müssen heutzutage die Klappe halten können, um ja nichts Falsches zu sagen. Das sieht man bei Olaf Scholz, der macht das sehr konsequent. Dafür erntet er den Vorwurf, dass er nie etwas sagt und nie etwas erzählt. Er erzählt halt nur das, was er verantworten kann. Das ist im Prinzip richtig, aber es wirkt nicht besonders gesprächsfähig. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Das war aber auch bei Angela Merkel schon so…</b><BR />Müntefering: Das stimmt. Frau Merkel hat diesbezüglich schon etwas vorgearbeitet, daher sind die Deutschen die Art von Olaf Scholz schon ein wenig gewohnt. Dieses Nichts- bzw. Wenig-Sagen ist aber schon Thema in Deutschland. <BR /><BR /><b><BR />STOL: Wenn man Angela Merkel und Olaf Scholz anschaut, dann sind sie das genaue Gegenteil von Gerhard Schröder. Schröder war ja geradezu extrovertiert als deutscher Bundeskanzler. Wäre ein Politiker-Typ à la Schröder heutzutage überhaupt noch denkbar?</b><BR />Müntefering: Schröder war, wie man so schön sagt, eine Rampensau. Wenn der sich auf eine Bühne stellte, dann hat er erzählt, er hat den Leuten etwas gesagt. Das hatte seine Wirkung, weil da eine gewisse Spontaneität dabei war. Daher haben die Leute ihm auch verziehen, wenn hin und wieder etwas dabei war, was nicht ganz lupenrein war. Da gibt es durchaus Parallelen zu Markus Söder, auch wenn es dieser etwas raffinierter macht. Solche Politiker-Typen sind heutzutage also durchaus noch denkbar, auch wenn sie in der Minderheit sind. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-54493474_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Aber auch für Politiker ist es mit den sogenannten sozialen Medien ungleich schwerer geworden…</b><BR />Müntefering: Das stimmt, aber die tu ich mir nicht an. Ich habe den Verdacht, dass ganz viele zwar eine Meinung haben, aber keine Urteilsfähigkeit. Und das ist verheerend und besorgt mich sehr um die Demokratie. <BR /><BR />Man kann sich nur äußern, wenn man urteilsfähig ist. Das interessiert viele aber nicht mehr. Viele holen sich von irgendwo eine Meinung her, prahlen diese hinaus und lassen sie so stehen. Ob das stimmt, das juckt die überhaupt nicht. Denen geht es dann darum, wer am auffälligsten ist und nicht, wer die besten Argumente hat. Das widerstrebt mir wahnsinnig, und das wird ein großes Problem für die Demokratie. Ich habe immer nur zu einem Thema gesprochen, wenn ich wusste, dass ich etwas davon verstehe. Und sonst war ich still. <BR /><BR />Heute ist es ja schon in der eigenen Partei schwierig: Früher traf man sich als SPD und man wusste, dass die Politiker die „Frankfurter Rundschau“, den „Spiegel“ oder die „Süddeutschen Zeitung“ gelesen haben, und man diskutierte über den Inhalt dieser Zeitungen. Heute hingegen gucken sich alle an und ein Teil sagt: „Weiß ich nicht, hab’ ich nicht gesehen.“ Dafür wissen sie aber, was in den sozialen Medien stand. Das wiederum weiß der andere Teil nicht. Aus dieser unterschiedlichen Grundlage eine gemeinsame Meinung zu machen, ist äußerst schwierig. <BR /><BR />Wie gesagt: Ich bin sehr besorgt um die Demokratie, wenn ich an die sozialen Medien denke. Man braucht nur an Donald Trump denken. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="773201_image" /></div> <BR /><BR /><i>Der heute 82-jährige Franz Müntefering war in den Jahren 1975 bis 1992 und 1998 bis 2013 Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Von 1998 bis 1999 war er Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen im ersten Kabinett Schröder. Von 2005 bis 2007 war er Vize-Kanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales im ersten Kabinett Merkel. Müntefering war von 2002 bis 2005 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und von März 2004 bis November 2005 sowie von Oktober 2008 bis November 2009 Bundesvorsitzender der SPD.</i><BR />