Die Sorge vor einer nuklearen Eskalation sei real. „Es besteht kein Zweifel, dass der russische Überfall auf die Ukraine völkerrechtswidrig ist. Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Wahr ist aber auch, dass der Krieg nicht vom Himmel gefallen ist. Er war nicht unvermeidlich“, sagt Prof. Gerhard Mangott. Es werde die Forschung noch lange beschäftigen, wer wann welche Weichen falsch gestellt habe, dass es so weit gekommen sei. Aber: „Keine falsche Entscheidung des Westens kann eine Rechtfertigung für diesen Angriffskrieg sein.“<h3> Täter-Opfer-Umkehr im Kreml: „Die Endlösung der russischen Frage“</h3>„Putin hat verschiedene Gründe angeführt und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben“. Die Argumente: Russland habe nicht anders können, weil von der Ukraine eine Gefahr ausgegangen sei. „Der zweite Grund, der genannt worden ist: Russland müsse seinen Brüdern im Donbas helfen, die von einer ,Bande von Nazis und Drogensüchtigen‘ bedroht seien“, erläutert der Experte. „Inzwischen spricht Moskau davon, dass der Westen Russland zerstören, die russische Zivilisation auslöschen wolle. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat gesagt, der Westen strebe die ,Endlösung der russischen Frage‘ an“: Die Analogie zur NS-Terminologie zeige, Russland wähne sich in einem Vernichtungskrieg.<h3> Die tatsächlichen Gründe für den Krieg: Historischer Revanchismus</h3>„Die tatsächlichen Gründe sind freilich andere“, sagt Prof. Mangott: Vor allem historischer Revanchismus sei als ein solcher zu nennen. „Putin sieht es als seine Mission, das historische Russland wiederherzustellen. Dazu will er Gebiete zurückholen, die angeblich immer russische gewesen seien“: Den Vergleich zu Peter dem Großen strebe Putin an – auch dieser habe – so die Diktion des Kreml – Gebiete zurückgeholt, die zu Russland gehörten. „So sieht er auch seine Rolle“, sagt Prof. Mangott. „Für die Eigenstaatlichkeit der Ukraine ist in diesem Verständnis kein Platz: Sie sei ein ungerechter historischer Zufall, den die Kommunisten in der Sowjetunion zu verantworten hätten. Ukrainer und Russen sind für Putin ein Volk.“<h3> Über den Verlauf des Krieges: Vom Blitz- zum Abnützungskrieg</h3>„Man hat in Moskau einen anderen Verlauf erwartet“, skizziert Prof. Mangott: „Moskau ging von einer Art Blitzkrieg durch Elite- und Lufteinheiten aus.“ Man habe geglaubt, in Kiew schnell eine Marionettenregierung einsetzen zu können: „Im Kreml ist man davon ausgegangen, dass die ukrainische Armee kapitulieren würde. Das ist nicht passiert. Inzwischen haben wir seit 11 Monaten Krieg“ – und zwar einen „Abnützungskrieg mit stabiler Front“. Nur wenige Quadratmeter würden derzeit bei kleineren Kämpfen getauscht.<h3> „Der Mythos der Stärke der russischen Streitkräfte ist entzaubert“</h3>„Es hat sich gezeigt, dass die Stärke der russischen Streitkräfte nicht existiert. Dieser Mythos ist entzaubert worden“, betont Prof. Mangott. Die Wehrkraft der ukrainischen Armee hatte man in Moskau nicht erwartet – genausowenig wie jene der Bevölkerung. „Nur im Osten und Süden waren die russischen Offensiven erfolgreich.“<h3> Westliche militärische Hilfe: „Welchen Preis soll und will Russland zahlen?“</h3>„Mit westlicher militärischer Hilfe ist es der Ukraine gelungen, der russischen Seite Opfer abzuringen: Russland hat in den vergangenen 10 Monaten 100.000 Soldaten verloren – sie sind gefallen oder verwundet“, zeichnet Prof. Mangott nach. „Die Ukraine hat mit erfolgreichen Offensiven im Osten und Südwesten Gebiete zurückerobert.“ Ohne westliche Militärhilfe wäre der Krieg längst zu Ende, ist der Experte sicher: „Der Preis dafür wäre die Unabhängigkeit des ukrainischen Staates und die Freiheit der ukrainischen Bevölkerung.“<BR /><BR />Die Erfolge der Ukraine seien nur möglich gewesen, weil die russischen Streitkräfte ausgedünnt worden seien. „Putin musste Reservisten mobilisieren – schlecht trainierte, schlecht ausgerüstete.“ Dagegen habe sich der Machthaber im Kreml lange gesträubt. Der Grund dafür ist leicht nachzuvollziehen: „Bis zur Mobilmachung im September hatte die russische Bevölkerung die Auswirkungen der so genannten militärischen Spezialoperation nicht gespürt. Die Zustimmung dafür war groß“, weiß Prof. Mangott. „Mit der Mobilmachung sind der Krieg und seine Folgen in jeden Haushalt gekommen. Die Stimmung in der russischen Bevölkerung hat sich deutlich geändert.“ Inzwischen gebe es eine Mehrheit, die Friedensverhandlungen befürworte. „Nur eine kleinere Gruppe spricht sich noch dafür aus, den Krieg fortzusetzen. Die Angst vor einer Niederlage ist gestiegen – auch in der Führungselite“, so der Russlandkenner: „Die Frage ist: Welchen Preis soll und will Russland zahlen, um den Krieg zu gewinnen?“<h3> Putin braucht Erfolgsmeldungen: Annexion ein kritischer Zug</h3>In diesem Lichte sei auch Putins Annexionsankündigung von Gebieten in der Süd-Ost-Ukraine zu sehen: „Es war notwendig, einen Erfolg zu verkünden. Gleichzeitig hat sich Putin damit Verhandlungsmasse genommen“, sagt Prof. Mangott: Wie könnte er etwa rechtfertigen, ein Gebiet wie Cherson 4 Monate lang zu halten, um es dann aufzugeben?<BR /><BR />„Russland greift jetzt ukrainische zivile Infrastruktur an, um den Widerstandswillen der Menschen zu brechen, eine Flüchtlingswelle Richtung EU auszulösen und die ukrainische Wirtschaft zu schädigen. Ohne Strom keine industrielle Produktion: Das trifft auch die Rüstungsindustrie. Letztendlich will er die Regierung an Verhandlungstisch zwingen.“<BR /><BR />Der Westen hat mit Waffenlieferungen reagiert: „Wir alle kennen die Diskussion um die Lieferung von Kampfpanzern. Deutschland und dessen Kanzler Olaf Scholz stehen in der Kritik, zu zögerlich zu sein.“ Der Politikwissenschaftler erklärt: „Durch Waffenlieferungen ist der Westen völkerrechtlich keine Kriegspartei; politisch befindet sich der Westen aber sehr wohl in einer seltsamen Art Krieg.“<h3> Sanktionen für Russland, Panzer für die Ukraine – mit welchen Folgen?</h3>Haben die westlichen Sanktionen gewirkt? Oder leidet Europa mehr als Russland? „Nein“, sagt Prof. Mangott: „Die Sanktionen haben nicht nicht gewirkt. Mit den Sanktionen möchte man das Verhalten Russlands ändern. Das ist nicht passiert und das wird nicht passieren. Geopolitische Ambitionen sind wichtiger für Putin als das Wohlergehen Russlands in sozialer wirtschaftlicher Sicht. Die russische Wirtschaft hat sich als resilienter erwiesen als man das im Westen erhofft hatte.“ Aber: „Das Ziel, die Kriegsführungsfähigkeit Russlands zu schwächen, wird erst in einigen Jahren wirken. Es könnte gelingen, aber nicht jetzt.“<h3> Gibt es eine Perspektive für eine politische Lösung des Konflikts?</h3>„In Politik und Wissenschaft wird darüber diskutiert, dass es eine Verhandlungslösung geben müsse. Aber es gibt derzeit keine Perspektive dazu. Das ist aussichtslos“, sagt Prof. Mangott. „Die Ukraine und Russland sagen zwar, sie seien bereit zu verhandeln – die Ukraine aber erst, wenn alle russischen Soldaten das Land verlassen haben. Was sollte dann noch verhandelt werden? Reparationen? Außerdem: Mit Putin will keiner verhandeln.“ Solche Verhandlungen könnten erst mit der nächsten russischen Führung möglich werden. <BR /><BR />„Russland hingegen sagt: Die Ukraine muss die Realität am Boden anerkennen: Russland will annektierte Gebiete nicht zurückgeben. Diese Bedingung kann und will die Ukraine nicht erfüllen. Die Bevölkerung ist gegen territoriale Zugeständnisse.“<h3> Sieg und Niederlage – und die Angst vor der nuklearen Eskalation</h3>„Der Krieg wird noch lange weitergehen“, prophezeit Gerhard Mangott. „Der Westen wird die Ukraine weiter mit Waffen und Geld unterstützen. Zu klären aber ist: Was sind die Kriegsziele? Was verstehen wir unter einem Sieg? Darüber gibt es keine Einigkeit im Westen.“ <BR /><BR />Die Baltischen Staaten und Großbritannien stehen der Ukraine das Recht zu, ein „maximalistisches Kriegsziel“ zu verfolgen, wie Prof. Mangott erläutert. „Deutschland, Frankreich und Italien haben hinter den Kulissen immer gesagt, solche maximalistischen Ziele sollten nicht unterstützt werden: Kanzler Olaf Scholz sieht in der Lieferung von Kampfpanzern und Flugzeugen ein Eskalationsrisiko.“<BR /><BR />In Berlin fürchte man die horizontale Eskalation – dass also weitere Länder in den Konflikt gezogen werden – aber auch die vertikale: „Es gibt die Sorge davor, dass Russland taktische Nuklearwaffen einsetzen könnte (nukleare Sprengkapseln, die in einem recht engen Umkreis, zum Beispiel von Kampfflugzeugen aus, eingesetzt werden können, Anm. d. Red.), wenn eine desaströse Niederlage bevorsteht“, sagt Prof. Mangott.<h3> Gefahr: Putin kann sich eine Niederlage nicht leisten</h3>„Verliert Putin, ist sein Sturz sicher – nicht durch das Volk, sondern durch eine Art Palastrevolte. Daher ist nicht auszuschließen, dass er taktische Nuklearwaffen einsetzt. Das erklärt, was Beobachter an Scholz’ Verhalten als zögerlich oder zaudernd festmachen.“ Klar sei deshalb: „Der Westen muss die Frage der Kriegsziele in diesem Jahr klären.“<h3> „Putin kann bis 2036 Präsident bleiben, wenn er das biologisch überlebt“</h3>Was wird nun aus Russland? „Russland ist nicht global isoliert, aber es gibt die Isolation durch den Westen. Die Eiszeit wird lange bleiben – mindestens so lange, wie Putin an der Macht ist“, illustriert Prof. Mangott. Durch verschiedene Verfassungsänderungen in den vergangenen Jahren könne Putin bis 2036 Präsident bleiben, „wenn er das biologisch überlebt“, wie es Mangott formuliert. „Die russische Wirtschaft und die technische Entwicklung im Land wird jedenfalls um Jahrzehnte zurückgeworfen werden.“<BR /><BR />Dass die Russen selbst sich nicht gegen Putin erhöben, sei vom Sofa aus leicht zu kritisieren, mahnt der Experte: „Russische Bürger riskieren viel, wenn sie sich gegen den Krieg aussprechen: ihren Arbeits- und Studienplatz, Finanz-, sogar Haftstrafen von bis zu 15 Jahren.“<BR />Doch viele Russen verlassen das Land; erst wegen des Wohlstandsverlusts in Folge der Sanktionen, dann aus Angst vor der Mobilmachung. „Dieser Brain-Drain wird Russland lange belasten. Wenn der Krieg vorbei sein wird, wird es Russland schwerfallen, das Land wieder aufzubauen. Auch militärisch ist es geschwächt.“<h3>Und was ist mit dem Rest der Welt?</h3>„Der größte geopolitische Gewinner sind die USA“, sagt Prof. Mangott. „Ihr Rivale Russland ist auf lange Sicht geschwächt. Die USA mussten keinen Soldaten einsetzen.“ So könnten sich die USA auf den eigentlichen großen Gegner konzentrieren: China.<BR /><BR />China sei der zweite geopolitische Gewinner des Ukraine-Kriegs. Im Land der Mitte habe es immer die Sorge gegeben, dass sich der Westen mit Russland gegen ein aufstrebendes China richten würde: „Nun hat China Russland in der Tasche“, sagt Prof. Mangott. In Russland sei man enttäuscht über das Verhalten von China. Dieses habe den Krieg in der Ukraine zwar nicht verurteilt und dafür die Nato-Osterweiterung verantwortlich gemacht – „aber die Hoffnungen, dass China die Auswirkungen der Sanktionen abmildern könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Für chinesische Unternehmen ist der amerikanische Markt wichtiger als der russische“. „Ganz so groß ist China als Gewinner aber nicht“, schränkt der Experte ein – das liege am transatlantischen Schulterschluss. „Versuche Chinas, europäische Staaten auf seine Seite zu ziehen, sind gescheitert.“<BR /><BR />Außer Zweifel stehe: „Europa ist der Verlierer: Die EU hat Kapital und Know-how, aber Russland die Ressourcen.“ Auf lange Sicht sei eine Zusammenarbeit Geschichte. „Der Krieg wird noch lange weitergehen. Die Ukraine will zum Asowschen Meer vorstoßen. Selbst mit Hilfe westlicher Waffen ist ein Erfolg nicht sicher.“<BR /><BR /><b>Zur Person:</b><BR />Gerhard Mangott ist Professor für Politikwissenschaft mit der Spezialisierung auf Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im post-sowjetischen Raum an der Universität Innsbruck. Er ist 1966 in Zams in geboren und besuchte in Landeck die Schule, bevor er in Innsbruck und Salzburg Politikwissenschaft, Geschichte und Slawistik studierte. Besonders seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs ist er regelmäßig Gast in Nachrichten- und Diskussionssendungen in Österreich, Deutschland und darüber hinaus. Beim traditionellen Neujahrsempfang der Prader Bank in Bozen referierte er nun vor einer großen Zahl Interessierter zum Thema „Russlands Krieg gegen die Ukraine: Interessen, Verlauf und geopolitische Implikationen“, dessen Inhalt hier wiedergegeben wird.<Rechte_Copyright></Rechte_Copyright>