Diesen konträren Standpunkten entsprachen auch die Vorträge der vier Historiker am Tag der Autonomie am 5. September: Eva Pfanzelter, Universität Innsbruck, Andrea di Michele, Freie Universität Bozen, Michael Gehler, Universität Hildesheim und Rolf Steininger, emeritierter Professor der Universität Innsbruck bezogen dazu Stellung.Landeshauptmann Kompatscher wünscht sich Perspektivenvielfalt„Wir haben es auch genau so gewollt – wir wollten die Dialektik der historischen Ereignisse aufzeigen“, sagte Landeshauptmann Arno Kompatscher nach der Begrüßung der zahlreichen Ehrengäste. Auch die Entscheidung für Schloss Sigmundskron als Ort für die Veranstaltung sei bewusst gefallen, in Erinnerung an die Forderung des „Los von Trient“, die Silvius Magnago hier gestellt hat.„Es soll dies kein einseitiger Blick auf die historischen Ereignisse werden. Vielmehr möchten wir die verschiedenen Lesarten und Bewertungen der historischen Ereignisse sichtbar machen, die es heute noch immer gibt. Nur so kann sich jeder eine Meinung bilden darüber, wie die geschichtlichen Ereignisse zu bewerten sind“, meinte der Landeshauptmann. „Es ist schließlich gefährlich, historische Ereignisse nur aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu bewerten. Im Nachhinein ist es leicht, immer alles besser zu wissen“, stellte Kompatscher fest.Pfanzelter: "Selbstbestimmung war falsche Strategie"Die Historikerin Eva Pfanzelter stellte in ihren Ausführungen fest, dass Südtirol mit der Selbstbestimmungsstrategie auf die falsche Karte gesetzt hatte. Es gab Gründe dafür, Südtirol bei Italien zu belassen, die jenseits dessen lagen, was Südtirols Argumente für eine Rückkehr zu Österreich ausmachten: Man wollte eine Friedensvertrag unterzeichnen können, der für alle Staaten „akzeptierbare Formulierungen“ enthielt. Das Abkommen gilt für Pfanzelter als Resultat der diplomatischen Schwäche Österreichs und des anhaltenden Zentralismus Italiens, das somit eine wirkliche Autonomie zunächst verspielt hatte. Aus heutiger Sicht aber könne das Abkommen aber durchaus als Südtirols Magna Charta angesehen werden.Di Michele: "Gruber und Degasperi haben weder Ruhm noch Spott verdient"Für den Bozner Historiker Andrea di Michele sei der Zeitpunkt gekommen, die polemische und nachtragende Haltung abzulegen. Anzuerkennen sei, dass das Abkommen trotz allem in der Südtirolfrage ein erster Schritt vorwärts war, der erstmals in einem Geiste der Zusammenarbeit und nicht mehr in jenem der Unterdrückung stattfand. Es sei internationaler Wille gewesen, für Südtirol eine für alle akzeptable Lösung zu finden – die beiden Politiker Gruber und Degasperi hätten weder den Ruhm noch den Spott verdient, der ihnen mitunter zuteil wird. Aber auch vor dem Hintergrund des italienischen Verlustes Istriens, sagte Di Michele, hätten die Siegermächte Italien nicht auch noch zumuten können, Südtirol zu verlieren.Gehler: "Abkommen ist keine Magna Charta"Michael Gehler sieht derweil das Gruber-Degasperi-Abkommen alles andere als eine "Magna Charta" an, vielmehr als „gescheiterte Selbstbestimmung und verweigerte Autonomie“. Er führte an, warum für Karl Gruber 1946 die Südtirolfrage keine hohe Priorität genoss, während Alcide Degasperi nur für seine Heimatprovinz Trentino eine Autonomie herausholte. Das Abkommen habe Südtirol sowohl die „äußere Autonomie“ verweigert als auch 1947/48 die „innere Autonomie“ infolge des ersten unzureichenden Autonomiestatuts. Eine weitere provokante These Gehlers betrifft die unzureichende internationale Verankerung des Abkommens, das hingegen nur vom „guten Willen“ des bilateralen Abkommens geprägt war.Steininger: "Gruber holte Maximum heraus"Rolf Steininger verteidigte schließlich seine These der Magna Charta Südtirols, als die er das Abkommen sieht. Das Abkommen war schließlich ein Teil des Pariser Friedensvertrages und als solches völkerrechtlich verankert. Ohne diese Verankerung sei es niemals möglich gewesen, dass Österreich mit seiner Resolution vor der UNO im Jahr 1960 die Einhaltung der Abmachungen einforderte. Vor dem Hintergrund der Grundsatzentscheidungen, die die Alliierten auf Basis der politischen Situation in Europa getroffen hatten „war es das Maximum, was Gruber in Paris herausholen konnte“, sagte Steininger.stol/lpa