<b>STOL: Gewalt an Frauen: Wie groß ist dieses Problem auch im Jahr 2022 noch in Südtirol?</b><BR />Christine Clignon: Südtirol liegt im Durchschnitt, egal ob wir auf die anderen italienischen Regionen, Europa oder die ganze Welt als Vergleich schauen. Es ist schwierig, dieses Problem an Zahlen festzumachen, da die Dunkelziffer in Bezug auf Gewalt an Frauen sehr hoch ist. Die verlässlichen Studien auf nationaler und internationaler Ebene zeigen aber, dass eine von 3 Frauen im Laufe ihres Lebens physische oder sexualisierte Gewalt erfährt. Das gilt auch für Südtirol. Als GEA führen wir die Kontaktstelle gegen Gewalt und das Frauenhaus in Bozen. Im Jahr 2021 haben wir dort 260 Frauen betreut, die Opfer von Gewalt wurden, 17 von ihnen wurden gemeinsam mit 13 Minderjährigen im Frauenhaus aufgenommen. Die vergangenen 20 Jahre unserer Tätigkeit haben gezeigt, dass das Bewusstsein der Frauen dafür, dass es Möglichkeiten gibt, aus Gewaltsituationen auszusteigen, zugenommen hat. Wir leisten zwar immer mehr Beratungen und nehmen immer mehr Frauen auf, das hängt aber vor allem damit zusammen, dass Frauen vermehrt nach einem Ausweg aus ihrer Lage suchen. Bei diesen Beratungen können wir klar beobachten, dass der Großteil der Gewalt nicht auf der Straße stattfindet, sondern in den eigenen 4 Wänden. Im Jahr 2021 wurde Gewalt an Frauen in 94 Prozent der Fälle im häuslichen Umfeld ausgeübt und es gab keinen einzigen Fall, bei dem es sich um einen der Frau unbekannten Täter handelte.<BR /><BR /><b>STOL: Gibt es Muster nach denen Gewalt an Frauen immer wieder ausgeübt wird?</b><BR />Clignon: Gewalt an Frauen durchzieht alle Gesellschaftsschichten, völlig unabhängig vom Herkunftsland, der religiösen Ausrichtung, Alter oder Bildungsniveau. In den meisten Fällen wird die Gewalt vom eigenen Partner oder Ex-Partner – im Jahr 2021 betraf dies 82 Prozent aller Fälle in Südtirol – oder einem anderen männlichen Familien Mitglied - dem Vater aber letzthin vermehrt auch von Söhnen – ausgeübt. Was fast alle Fälle von Gewalt an Frauen verbindet, ist die Tatsache, dass die Gewalt ausgeübt wird, um die Frau zu kontrollieren und Macht über sie auszuüben. Erste Alarmsignale für diese Kontrolle können bereits vermeintlich unbedenkliche Aussagen wie „Willst du wirklich in diesem Outfit auf die Straße gehen“ oder exzessive Eifersucht sein. Im Laufe einer Beziehung spitzen sich diese Situationen zu und können zu verschiedenen Formen von Gewalt ausarten: Wir beobachten neben der physischen Gewalt auch emotionale oder wirtschaftliche Gewalt. Diese Formen sind meistens untereinander verbunden: Oft fängt es mit emotionaler Gewalt an, die dann auch finanziell ausgeübt wird und schließlich in tätlichen Angriffen endet. Der gefährlichste Moment ist jener, in dem sich die Frau der Kontrolle des Mannes entzieht, entweder durch das Beenden der Beziehung oder in dem sie aus diesem Kreislauf anderweitig aussteigt. In diesen Momenten kommt es dann leider auch zum Femizid als letzten Akt der Kontrolle: „Wenn ich dich nicht mehr kontrollieren kann, kann ich dennoch entscheiden, dir dein Leben zu nehmen.“<BR /><BR /><b>STOL: Streit, in dem auch verletzende Worte fallen, gibt es in den meisten Beziehungen. Wann wird dabei eine rote Linie überschritten?</b><BR />Clignon: Man muss hier klar sagen, dass es bei dem Thema Gewalt an Frauen nicht um Konflikte geht, sondern um Straftaten. Dass es in Beziehungen immer wieder zu Diskussionen kommt, liegt in deren Natur, aber im Moment wo eine Kontrollausübung stattfindet, wurde bereits ein Limit überschritten: Wenn die sozialen Kontakte, Bewegungen oder Chatverläufe einer Frau kontrolliert werden oder sie in eine wirtschaftliche Abhängigkeit gerät, weil sie keiner Arbeit nachgehen darf, ist dies bereits Ausübung von Gewalt. <BR /><BR /><embed id="dtext86-56461636_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Wo kann eine Betroffene Hilfe bekommen?</b><BR />Clignon: Wir raten jeder Betroffenen sich auch nur im Zweifelsfall an eine Kontaktstelle gegen Gewalt zu wenden. Dort gibt es die Möglichkeit kostenlos, anonym und ohne jegliche Verpflichtung zu weiteren Schritten mit unseren Mitarbeiterinnen in einen Austausch zu treten. Dabei kann die eigene Situation eingeschätzt, bei Bedarf ein Rechtsbeistand hinzugezogen oder psychosoziale Beratung geleistet werden. Wenn eine Frau darüber im Zweifel steht, ob sie einer Gewaltsituation ausgesetzt ist, sollte sie sich auf jeden Fall Hilfe holen und mit einer kompetenten Fachkraft darüber sprechen.<BR /><BR /><b>STOL: Was muss sich auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene verändern, damit es in der Zukunft weniger Gewalt an Frauen gibt?</b><BR />Clignon: Das ist ein großes Thema. Gewalt an Frauen kommt nicht von ungefähr, sondern basiert ganz klar auf Vorurteilen und stereotypisierten Rollenbildern unserer Gesellschaft. Diese werden durch sexistische Sprüche und Stammtischparolen noch weiter legitimiert. Davon kann sich jeder einzelne distanzieren und Position dagegen ergreifen. Das gilt insbesondere auch für Männer: Es wäre ein wichtiges Signal, dass auch sie Position beziehen und beim nächsten Stammtischtreffen sagen: „Stopp, das ist nicht witzig.“ Darüber hinaus muss man auch überlegen, was wir gegen Gewalt an Frauen als strukturelles Problem machen können. Dafür braucht es eine institutionelle Stellungnahme. <BR /><BR /><b>STOL: Hat es in den vergangenen Jahren hier Fortschritte gegeben?</b><BR />Clignon: Die vergangenen 20 Jahre haben nicht nur keinen Fortschritt gebracht, sondern teilweise sogar einen Rückschritt. Mit besonderer Sorge betrachten wir auch die aktuelle politische Situation in Italien. Gerade deshalb ist es umso wichtiger mit unseren Anliegen sichtbar zu sein, bei denen es schließlich um die Wahrung der Menschenrechte geht.<BR /><BR /><b>STOL: Was unternehmen Sie als GEA gegen Gewalt an Frauen?</b><BR />Clignon: Bei der Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen können alle interessierten Personen und vor allem betroffene Frauen Informationen bekommen. Im Frauenhaus finden Frauen, die sich in Gewaltsituation befinden, eine Unterkunft. Ein besonders wichtiger Bereich ist zudem die Sensibilisierungsarbeit. Prävention und Aufklärung sind essentiell, wenn man das Problem Gewalt an Frauen in den Griff bekommen will. Istat-Statistiken haben gezeigt, dass ein Großteil der Italiener denkt, dass Frauen einen sexuellen Übergriff vermeiden können, wenn sie das nur wollen. Diese Vorurteile ziehen sich quer durch alle Gesellschaftsbereiche: Wir finden sie im Gericht, bei den Ordnungskräften oder in der Sanität. Deshalb ist es wichtig, die Akteure aus diesen Bereichen weiterzubilden und sie zu dem Thema zu informieren, damit sie die Dynamik der Gewalt an Frauen erkennen können.<BR /><BR />Am gestrigen Sonntagnachmittag hieß es „Mordalarm in Bozen“: Die Sicherheitskräfte fanden den leblosen Körper der 35-jährigen Alexandra Elena Mocanu in ihrer Wohnung vor. Die in einer Bar in einem Bozner Einkaufszentrum angestellte Rumänin soll einen gewaltsamen Tod gestorben sein. Von ihrem Ehemann fehlt indes jede Spur. <a href="https://www.stol.it/artikel/chronik/mordalarm-35-jaehrige-liegt-tot-in-ihrer-wohnung-keine-spur-vom-ehemann" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Lesen Sie hier mehr dazu.</a><BR /><BR /><b>Hier finden Sie Hilfe</b><BR /><BR />GEA - für die Solidarität unter den Frauen gegen Gewalt - wurde 1999 als Verein gegründet. Als überparteiliche, überkonfessionelle und gemeinnützige Organisation setzt sie sich für die Stärkung und Förderung des Frauendenkens, die Sensibilisierung für das Thema Gewalt gegen Frauen und die Unterstützung von Frauen, die von Gewalt betroffen sind, und ihrer Kinder ein.<BR /><BR />GEA bietet Frauen, die Gewalt erfahren, rund um die Uhr Hilfe an. Die Notrufnummer <b>800 276433</b> ist 24 Stunden am Tag aktiv.<BR />