Sonntag, 28. Mai 2023

Multiple Sklerose: „Das Schlimmste ist, es glaubt dir keiner“

Christoph Graf Mamming ist der Präsident der Multiple-Sklerose-Vereinigung und leidet selbst an der unheilbaren Krankheit. Im Gespräch erzählt er, wie die Krankheit sein Leben schon in jungen Jahren geprägt hat. „1996 war ich dem Rollstuhl nahe“, sagt er. „Das Schlimmste ist aber, dass dir keiner glaubt.“

Christoph Graf Mamming leidet seit seiner Jugend an MS. - Foto: © DLife

Von:
Matteo Tomada
STOL: Herr Graf Mamming, wie lebt es sich mit Multiple Sklerose (MS)?
Christoph Graf Mamming: Mir ging es in den vergangenen 2 bis 3 Jahren nicht so gut. Jetzt geht es mir aber zunehmend besser. Ich habe Schwierigkeiten mit der Blase und habe deswegen ein Säckchen, das ich immer mit mir herumtrage. Auch beim Gehen gibt's Probleme, ansonsten geht's mir relativ gut.

STOL: Wann haben Sie gemerkt, dass etwas mit Ihnen nicht stimmt?
Graf Mamming: Ich bin in meiner Jugend 10 Jahre lang wegen verschiedener Sehnenentzündungen behandelt worden und hatte Probleme mit der Blase. Auch mein rechter Oberschenkel prickelte. Im Jahr 1996 bin ich dann komplett unkoordiniert gewesen, konnte nicht mehr durch eine Tür gehen ohne mich zu stoßen, bin dauernd hingefallen und konnte nicht mehr Karten in der Hand halten. Mit 18 war ich dem Rollstuhl nahe.


Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung des Nervensystems, deren Ursachen bis heute noch nicht genau geklärt sind. - Foto: © APA-Grafik




STOL: Was haben Sie dann gemacht?
Graf Mamming: Nachdem man lange Zeit nicht verstanden hatte, was los war, bin ich zu einem Freund gegangen, der Neurochirurg in Turin war. Er hat mich in eine Spezialklinik in Gallarate bei Mailand geschickt. Dort wurde ich zu einem Versuchskaninchen und konnte bei einer Vorstudie für MS mitmachen.


Ich habe 1997 ein Medikament bekommen, das erst 2004 zugelassen wurde.
Christoph Graf Mamming



STOL: Hat man damals nicht gewusst, was MS ist?
Graf Mamming: Seit ungefähr 1770 gibt es die Beschreibung dieser Krankheit. Aber erst in den 90er Jahren hat man begonnen durch Magnetresonanzen bessere Diagnosen zu bekommen. Ich habe 1997 ein Medikament bekommen, das erst 2004 zugelassen wurde. Mittlerweile diagnostiziert man die Krankheit Leuten, denen man es gar nicht anmerkt. Man kann dadurch viel früher intervenieren.

STOL: Wie intervenieren?
Graf Mamming: Mit Medikamenten. Ich war in meiner Jugend ein strikter Verweigerer von Medikamenten und habe auch nichts genommen, keine Fiebermittel, kein Aspirin. Mittlerweile lebe ich von Medizinen. Erstens verlangsamen sie die Krankheit und zweitens bekomme ich dadurch Nebenerscheinungen in den Griff. Leider sehe ich viele, die an MS erkrankt sind und sich weigern, etwas dagegen zu tun. Dann kann es sehr schnell bergab gehen.


Christoph Graf Mamming - Foto: © Tiberio Sorvillo




STOL: Ist ein normales Leben mit MS überhaupt möglich?
Graf Mamming: Ja, am Anfang ist es möglich, doch irgendwann geht man an der Krankheit zugrunde, wenn man keine Medikamente nimmt. Je früher man mit der Behandlung beginnt, desto mehr kann man die Schübe hinauszögern.

STOL: Schübe?
Graf Mamming: Schub bedeutet, dass plötzlich irgendetwas nicht mehr funktioniert, also zum Beispiel ein Bein, ein Arm, die Augen, die Blase, das Reden usw. Am Anfang hatte ich 2 bis 3 Schübe im Jahr. Mit den Medikamenten bekam ich nur mehr einen Schub alle 3 Jahre.


Bei einer besonderen Form, die meistens Junge betrifft, ist die Krankheit von vornherein richtig bösartig.
Christoph Graf Mamming



STOL: Wie lange dauert ein Schub?
Graf Mamming: Das ist bei jedem Patienten verschieden. Mit einer Spritze von 1000 Milligramm Kortison am Tag bekommt man den Schub für den Moment im Griff. Offen bleibt dann, wann der nächste Schub kommt.

STOL: Geht's den Betroffenen nach diesen Schüben wieder besser?
Graf Mamming: Mit dem Kortison wird es besser. Aber man muss sehr viel Reha machen. Reha, Reha, Reha, das ist das Wichtigste. Es gibt verschiedene Formen von MS. Bei einer besonderen Form, die meistens Junge betrifft, ist die Krankheit von vornherein richtig bösartig und man bekommt sie kaum in den Griff.

STOL: Was geschieht mit den Patienten?
Graf Mamming: Das ist ganz verschieden, je nachdem, welche Nervenzellen angegriffen werden. Einige sitzen im Rollstuhl, weil sie die Beine nicht bewegen können, andere sind im Rollstuhl und können gar nichts mehr bewegen.


„Einige sitzen im Rollstuhl, weil sie die Beine nicht bewegen können, andere sind im Rollstuhl und können gar nichts mehr bewegen.“ - Foto: © dpa-tmn / Karl-Josef Hildenbrand




STOL: Was ist das Schwierigste an der Krankheit?
Graf Mamming: Der innere Schweinehund ist das Schwierigste an der Krankheit. Man muss ihn überwinden und sich behandeln lassen. Das Schlimmste hingegen ist, dass dir keiner glaubt. Ich bin 3 Mal aus der Neurologie rausgeschmissen worden, weil sie dort gesagt haben, ich bilde mir alles nur ein und bin nur zu faul, um zu arbeiten. So geht es den meisten Patienten. Viele landen beim Psychiater, bevor sie zum Neurologen kommen.

STOL: Was hilft?
Graf Mamming: Man sollte zuerst an den Herrgott und an sich selbst glauben. Zweitens muss man das tun, was Ärzte und Physiotherapeuten sagen. Drittens, Reha, Reha, Reha. Und am allerwichtigsten: Sich nicht auf Google informieren! Da findet man nur negative Sachen und irrsinnige Theorien, die Geld kosten, nichts bringen und gefährlich sein können.


Man weiß nicht, wo MS herkommt und man weiß nicht, wo MS hinführt.
Christoph Graf Mamming



STOL: Gibt's Hoffnung, dass die Krankheit irgendwann heilbar wird?
Graf Mamming: Für meine Generation nicht. Für die meiner Kinder, weiß ich nicht. Aber bei der Generation danach, ist es wahrscheinlich, dass man die Krankheit heilen kann. Hoffnung setze ich vor allem in die Genforschung.

STOL: Ist die Krankheit also genetisch vererbbar?
Graf Mamming: Nein, sie ist kaum vererbbar. Man weiß nicht, wo sie herkommt und man weiß nicht, wo sie hinführt. Interessant ist, dass es die weiße Bevölkerung mehr trifft, als die südländische. In Italien hat Südtirol eine der höchsten Raten.


Es gibt schon 24-Jährige, die im Altersheim sind. Sie würden sich über Besuch sehr freuen.
Christoph Graf Mamming



STOL: Wie hilft Ihre Vereinigung den Betroffenen?
Graf Mamming: Wir als MS-Vereinigung versuchen, den Patienten eine psychologische Betreuung zu ermöglichen. Diese stehen auch für die Angehörigen des Betroffenen zur Verfügung, da diese oft noch stärker belastet sind.

STOL: Was wünschen Sie sich für MS-Patienten?
Graf Mamming: Dass die Leute versuchen, wieder ein bisschen Nächstenliebe zu entwickeln – nicht nur gegenüber MS-Patienten. Wir leben von Spenden. Die Spendenfreudigkeit ist in den vergangenen Jahren sehr zurückgegangen. Auch die Hilfsbereitschaft von Freiwilligen ist nicht mehr wie früher. Wir haben einige MS-Patienten, die den ganzen Tag daheim sind. Zum Beispiel haben wir schon 24-Jährige, die im Altersheim sind. Sie würden sich über Besuch sehr freuen.

Hier lesen Sie ein Interview über Forschungsfortschritte bei MS.

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