Dienstag, 30. Mai 2023

Schicksal: „Jeder Tag ist ein Überlebenskampf“

Im vergangenen Frühling flüchteten Tatiana und Jakov Gonchar aus der Ukraine zu ihrer Tochter nach Südtirol. Mit Kriegsbeginn waren sie dort auf sich alleine gestellt. Jakov Gonchar sagt im Nachhinein, dass er lieber in seiner Heimatstadt Bachmut gestorben wäre. Denn obwohl sich die Behörden und sozialen Dienste bemühen, gibt es keine adäquate Unterbringung für das körperlich schwer beeinträchtigte Paar.

„Ich verstehe nicht, warum gerade diejenigen, die Hilfe am nötigsten hätten, im Stich gelassen werden“, sagt Stefania Gonchar*. Ihre Eltern haben einen Invaliditätsgrad von 100 Prozent. Seit Monaten sind die ukrainischen Flüchtlinge gezwungen, Unterkünfte zu wechseln und in kleinsten Räumen zu leben.

Ihr Haus in Bachmut wurde zerstört, Südtirol erreichten sie mit wenigen Habseligkeiten: Tatiana (56) und Jakov Gonchar* (62). Die beiden fühlen sich schuldig – schuldig, hier zu sein. „Sie sehen sich als ein Gewicht im System“, erzählt ihre Tochter Stefania Gonchar. Seit Monaten leben sie – mit wenig Unterbrechungen – in kleinen Hotelzimmern, die nicht barrierefrei ausgestattet sind. Um den schwer beeinträchtigten Vater, der im Rollstuhl sitzt, kümmert sich die Mutter, die selbst 100 Prozent Invalidität hat. Sie nutzt einen Rollator und kann nicht Treppensteigen.

Ohne Wohnsitz keine Pflegeeinstufung

Die Beeinträchtigung von Tatiana und Jakov Gonchar ist vor dem italienischen Staat nicht bestätigt. „Weil sie keinen offiziellen Wohnsitz in Italien haben, können sie nicht die Pflegeeinstufung beantragen“, berichtet Stefania Gonchar. Dringend nötige Sozialleistungen und Ansuchen liegen somit auf Eis.

Ukrainische Flüchtlinge werden, wenn es keine private Unterbringungsmöglichkeit gibt, in ein Aufnahmezentrum (CAS) aufgenommen. Im Falle von Tatiana und Jakov Gonchar konnte allerdings keine Struktur gefunden werden, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. Flüchtlinge, die schwere körperliche Beeinträchtigungen haben und intensive Betreuung brauchen, finden hierzulande kaum Platz. „Gerade bei den vulnerabelsten der Gesellschaft wird kein Unterschied gemacht“, klagt Stefania Gonchar.

Ihre Eltern sind seit frühester Kindheit körperlich schwer beeinträchtigt. Der Vater aufgrund eines Gehirnschadens nach der Geburt, die Mutter erkrankte im Alter von 9 Monaten an einer Meningitis. In einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigung lernten sie sich kennen und lieben. Tatiana Gonchar wurde schwanger und schenkte einer gesunden Tochter das Leben: Stefania. Stefania Gonchar wuchs bei der Großmutter auf, die Eltern lebten gleich nebenan.

„Klar, dass sie Bachmut verlassen mussten“

Mit einer bescheidenen Invalidenrente und der späteren finanziellen Unterstützung der Tochter bezahlten sie eine Zugehfrau. Diese versorgte das Paar, kochte und machte den Haushalt. Tochter Stefania hingegen zog vor knapp 10 Jahren nach Südtirol. „2014 wurde die Situation in meiner Heimat immer unruhiger und ich beschloss, nach Italien auszuwandern“, erklärt sie. Hier erhielt sie politisches Asyl, lernte die Sprachen, fand eine Arbeit, heiratete und baute sich ein eigenes Leben auf.

Und dann kam der Krieg. Anfang April 2022 wurde Bachmut immer stärker bombardiert, die Zugehfrau konnte nicht mehr Tatiana und Jakov Gonchar versorgen. „Nachbarn kümmerten sich nun um meine Eltern. Es war klar, dass sie Bachmut verlassen mussten“, sagt Stefania Gonchar. Also organisierte sie ein privates Taxi, das die Eltern vom Osten des Landes in den Westen brachte. In Ternopil wartete ein Bus auf sie, nach 30 Stunden Fahrt erreichten Tatiana und Jakov Gonchar Südtirol.

Wechsel in verschiedene Hotels

„Sie waren fix und fertig und hatten nur eine kleine Tasche bei sich“, fasst die Tochter die Ankunft zusammen. Stefania Gonchar brachte ihre Eltern zunächst privat in einer Ferienwohnung im Burggrafenamt unter. „Das war im Mai 2022. Damals fuhr ich jeden Tag von Bozen ins Burggrafenamt, um meine Eltern mit Essen und Einkäufen zu versorgen“, erzählt sie. Die Ungewissheit, wohin die Eltern bringen, stieg.

„Die Ämter und Sozialdienste haben ihr Möglichstes versucht, aber letztendlich haben wir bis heute keine geeignete Unterkunft für meine Eltern gefunden“, sagt Stefania Gonchar und schildert die Odyssee: Nach dem Aufenthalt in der Ferienwohnung folgten Wechsel in verschiedene Hotels. Seit vergangenem August wird das Ehepaar täglich mittags mit Essen auf Rädern versorgt, einmal in der Woche kommt ein Sozialarbeiter und verrichtet die notwendigste Pflege. Ein wenig Erleichterung für die Tochter. „Aber die Rechnungen dafür sind offen.“

Die junge Frau kaufte ihren Eltern neue Kleidung und Brillen, da sie nach der Flucht kaum etwas bei sich hatten. Sie versorgt sie mit Einkäufen und Medikamenten. „Mit meinem Möglichkeiten mache ich, was ich kann“, erzählt sie. Mit ihrer Arbeit ist sie aber nicht in der Lage, zusätzlich dauerhaft 2 weitere zu Personen ernähren.

Mit ihrer Flucht wurden Tatiana und Jakov Gonchar von jeglicher finanzieller Unterstützung abgetrennt. Die ukrainische Invalidenrente bekommen sie nicht mehr, weil sie stets der Postbote gebracht hat. Auch vom italienischen Staat gab es bislang keine finanzielle Hilfe. Der nun genehmigte Asylantrag für 5 Jahre lässt auf ein monatliches Taschengeld von insgesamt 220 Euro hoffen.

Kein Erfolg bei privater Unterkunftssuche

Die Unterbringung in Hotels, wo Tatiana und Jakov Gonchar auf sich allein gestellt sind, verdammt sie zu einem würdelosen Dasein. Auf der Suche nach einer geeigneten Unterkunft wandte sich Stefania Gonchar auch an verschiedene Gemeinden und Private. Von Ersteren gab es so gut wie gar keine Rückmeldung. Letztere hätten zwar Hilfe angeboten, aber als sie konkret werden sollte, blieben die Türen verschlossen. „Was, wenn ihnen etwas passiert, wer übernimmt dann die Verantwortung?“, haben sich die Leute gefragt, sagt Stefania Gonchar.

Zudem seien einige besorgt gewesen: „Wer bezahlt mir die Miete? Was, wenn ich sie später nicht mehr aus der Wohnung rausbekomme?“ Bedenken, die durchaus nachvollziehbar seien, die Situation des Paares aber nicht verbessern.

Seniorenheim als Lösung

Ein Lichtblick zur Jahreswende waren ein kurzer Aufenthalt in einer Reha-Klinik und dann in einem Seniorenheim. Dort konnten sich Tatiana und Jakov Gonchar psychisch und körperlich wieder erholen. Möglich gemacht hatte dies u. a. der Erhalt der italienischen Gesundheitskarte. „Natürlich wären sie gerne noch länger dort geblieben. Es wäre die ideale Lösung“, sagt Stefania Gonchar. Über die Nein-Gründe kann nur spekuliert werden, von der finanziellen Frage bis hin zu den Ranglisten der Wartezeiten der Seniorenheime.

Leben wie in einem Gefängnis

Mit der Rückkehr ins Hotel verschlechterte sich die persönliche Situation des Ehepaars. „Meine Eltern können das Hotelzimmer nur verlassen, wenn ich sie besuche“, sagt die Tochter. Mit bebender Stimme zitiert sie die Worte ihres Vaters: „Ich wäre lieber zu Hause gestorben.“ Dieses Leben hier sei wie in einem Gefängnis. Es sei ein Überleben und kein Leben mehr, ein kontinuierlicher Kampf, so Stefania Gonchar. Als Beispiel schildert sie folgende Situation: Ihr Vater kommt mit seinem Rollstuhl nicht ins Bad. Also muss er eine Windel oder Bettpfanne für seine täglichen Bedürfnisse verwenden.

Eine baldige Lösung der Situation ist derzeit nicht in Sicht. „Wir sehen kein Ende“, schließt Stefania Gonchar.

Wer helfen kann und/oder eine Unterkunft zur Verfügung stellen möchte, kann sich an 324/77 71 531 oder [email protected] wenden.

* Namen von der Redaktion geändert.

tek

Stellenanzeigen


Teilzeit






Teilzeit





powered by
Kommentare
Kommentar verfassen
Bitte melden Sie sich an um einen Kommentar zu schreiben
senden