Donnerstag, 3. August 2023

„11.000 Saiten“ – „Klänge türmen sich zu einer gewaltigen Landschaft auf“

So etwas hat die Welt noch nicht gesehen: Für die Uraufführung des Stückes „11.000 Saiten“ von Georg Friedrich Haas erklangen in der Messe Bozen 50 mikrotonal gestimmte Klaviere gleichzeitig – eine musikalische, technische und logistische Meisterleistung.

Im Kreis waren die 50 Klaviere aufgestellt, davor die Musiker des Mahler Academy Orchestra und mittendrin das Publikum. - Foto: © Anna Cerrato

Eine Konzertkritik von Margit Oberhammer.

Auf dem Pult neben dem Ausgang liegt noch die Harfenstimme. Nach der überwältigenden Klangerfahrung hält sich das Interesse für technische Details in Grenzen, doch die ansprechende Grafik macht neugierig. Neben ausformulierten Spielanweisungen fällt eine steil ansteigende Notenskala mit einem Vorzeichen vor jeder Note ins Auge. Ob diese Notation mit der für Georg Friedrich Haas so wesentlichen Mikrotonalität zusammenhängt? Im anschließenden kurzen Publikumsgespräch hält sich der Komponist mit Spezialistenwissen zurück. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass die Mikrotonalität das Korsett der traditionellen Tonalität sprengt, ein Vielfaches an Klängen ermöglicht. Zu diesem Zweck wurde auf die seit ein paar Jahrhunderten übliche Klavierstimmung, temperierte genannt, verzichtet. Die 50 identischen Pianinos sind in den vergangenen Tagen mit Hilfe von 7 Klavierstimmern rein gestimmt worden.

Im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen, die sich in intellektuellen, ausgetüftelten Klangforschungen ergehen und sich wenig dafür interessieren, was diese bei der Zuhörerschaft auslösen, scheint sich Georg Friedrich Haas für die Rezipienten, für deren Assoziationen und Gefühle zu interessieren. Von dieser Auffassung ermutigt, darf man Persönliches teilen. Das zutiefst Menschliche dieser Klangwelt berührt tief. Es geht um eine essenzielle Erfahrung, in die man im Laufe der Aufführung erst nach und nach hineingezogen wird.

Durchnummeriert und Respekt einflößend stehen die Wandklaviere aus der chinesischen Fabrik Hailun kreisförmig angeordnet in der Messehalle. 50 Pianistinnen aus Hochschulen von nah und fern spielen mit dem Rücken zum Publikum, vor ihnen dem Publikum zugewandt, ebenso viele Mitwirkende des Mahler Academy Orchestra.

„Intensive Erfahrung“

Die ersten Töne erklingen, das Ohr, daran gewöhnt, einzuordnen, zuzuordnen, versucht Einzelheiten auszumachen. Der Kopf dreht sich unruhig in die verschiedenen Richtungen, sucht nach den Musikern. Höchst konzentriert widmen sie sich ihrem eigenen Part, der ungewöhnlichen Art dieses miteinander Musizierens. Auf jeden Fall eine intensive Erfahrung mit zeitgenössischer Aufführungspraxis. Eine Digitaluhr in der Mitte des Raumes strukturiert die Gleichzeitig- und Ungleichzeitigkeit der Klangerzeugung.

Der Beginn klingt überraschend nach traditionellem Dreiklang, die Ähnlichkeit des Instrumentenklangs mit einem Chor aus menschlichen Stimmen verblüfft. Nach und nach entfaltet die Komposition einen großen Sog. Sie lädt ein zu einer existenziellen Reise. Überraschung und Verblüffung beginnen zu weichen, die Versuche, das Gehörte einzuordnen, lassen nach. Sie weichen Bildern. Bilder, wie Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ oder sein kleiner Mönch am Meer tauchen auf.

„Im wildesten Klangspuk verbirgt sich Beruhigung“

Die Klänge der 11.000 Saiten türmen sich zu einer gewaltigen Landschaft auf. Wolken und Wasser, oben und unten verschwimmen. Klaviere und Orchesterinstrumente rauschen auf wie eine Brandung, deren große Wellen sich am Ufer brechen oder gegen Felsen klatschen. Gefolgt von einem gewaltigen Sturm. Entfesselte Naturelemente, dazwischen zarter Gesang der Dünen. Wie die Abgründe der Romantik führt auch diese Musik in die Dunkelheit, lädt zur symbiotischen Verschmelzung, zur Auflösung der Ich-Grenzen. Doch im wildesten Klangspuk verbirgt sich Beruhigung, in der finstersten Höhle ist das Licht zu sehen. Die Komposition führt in die Unterwelt und wieder ans Tageslicht, in den Lärm der Gegenwart. Gustav Mahler hätte posthum seine Freude daran. Auf wüstes Lärmen folgen Klarheit und sanftes Erwachen.

Dem Komponisten steht die Freude über die gelungene Uraufführung ins Gesicht geschrieben. Der Aufwand für das Zustandekommen war enorm, bei so vielen Beteiligten ein Scheitern nicht ausgeschlossen.
Termine: Heute, 19 Uhr, Villa Don Bosco Seniorenwohnheim und Ver- ein Donne Nissà, Musik im Hof mit Musikern des Konservatoriums – Morgen, 20.30 Uhr, Konzerthaus. Die Gustav Mahler Academy er- öffnet das Rahmenprogramm für Familien und Kinder ab 6-8 Jahren. Sie erleben eine Stunde vor Beginn des Konzerts unter Leitung von Matthias Pintscher einen Auszug aus Ravels Meisterwerk Ma Mere l'Oye („Mutter Gans“). Dabei wird neben der Entstehungsgeschichte auch aus dem Märchen erzählt. Die Kinder dürfen sogar mitten im Orchester sitzen!

Wie dieses unglaubliche Projekt verwirklicht wurde, erzählt der Kulturmanager und Koordinator von Bolzano Festival Bozen, Peter Paul Kainrath, im Gespräch.

stol

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