Sonntag, 6. August 2023

Ramelow: „Ein Zurück zur alten Normalität gibt es nicht“

Er gilt als einer der Pioniere der Linken in Deutschland, gleichzeitig aber auch als einer der Unbequemsten in seiner Partei: Bodo Ramelow (67). Der Ministerpräsident von Thüringen nimmt nur selten ein Blatt vor den Mund und scheut sich auch nicht, Entscheidungen gegen die Parteilinie zu treffen. Derzeit urlaubt Ramelow mit seiner Frau und Hund Lilo im Passeiertal. Im STOL-Sonntags-Gespräch spricht er über die Fehler seiner Partei, über die Krisen der vergangenen Jahre und die Folgen für die Gesellschaft und über den Twitter-Account seines Hundes Attila.

Bodo Ramelow: „Das Wort Heimat wird in der Linken in Deutschland nicht benutzt, das halte ich für einen großen Fehler.“ - Video: stol

Von:
Arnold Sorg
STOL: Herr Ramelow, Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: All diese Krisen haben die Gesellschaft gespalten. Ist es seither schwieriger geworden Politik, zu machen?
Bodo Ramelow: Viel schwieriger. Zu allen diesen Krisen kommen noch Telegramm-Gruppen oder WhatsApp-Gruppen hinzu, wo plötzlich Informationen und Meldungen auftauchen, die mich in den vergangenen Jahren völlig verwirrt und aus dem Tritt gebracht haben.

STOL: Zum Beispiel?
Ramelow: Mir haben Menschen, die mir nahestehen, die ich gut leiden kann oder gut kenne, Nachrichten geschickt, die so absurd waren, dass ich plötzlich an mir selbst gezweifelt habe. Ein langjähriger Abgeordneter hat mir gesagt, dass in den Stäbchen, die man für die PCR-Tests brauchte, Würmer drinnen sind. Ich habe diese Anfrage dann tatsächlich an das Ministerium weitergeleitet und zu Recht schallendes Gelächter dafür bekommen. Diese veränderte Wirklichkeit, diese alternativen Fakten, mit denen viele Mitbürger hausieren gehen, das ist ein Zeichen einer tiefen Verunsicherung.

„Wir Politiker haben Entscheidungen getroffen, die ich nie für möglich gehalten hätte.“ - Foto: © DLife



STOL: Warum sind die Menschen verunsichert?
Ramelow: Die Corona-Pandemie war für viele Bürger nur schwer zu verdauen. Wir Politiker haben Entscheidungen getroffen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich weiß noch, wie ich eines Morgens nach Berlin gefahren bin und für mich selbst entschieden hatte: Einen Kindergarten werde ich nie schließen. Am Abend haben in einer Sondersitzung unseres Kabinetts dann entschieden, dass wir Schulen schließen, weil wir nicht wissen, wie wir das Virus aufhalten und von den Großeltern fernhalten können. Wir haben viele notwendige Entscheidungen getroffen, wir haben aber auch – aus heutiger Sicht – Fehlentscheidungen getroffen. Für diese habe ich mich in meiner Regierungserklärung auch entschuldigt. All diese genannten Krisen, von Flüchtlingskrise über Corona bis hin zum Ukrainekrieg, das hat die Leute zutiefst verunsichert und ich muss feststellen: Ein Zurück zur alten Normalität, die wir bislang kannten, das gibt es nicht. Diese Montags-Demonstrationen der sogenannten Reichsbürger in Deutschland, die wurden anfangs nur belächelt. Heute lächle ich darüber nicht mehr, nachdem der erste Polizist ermordet wurde und die Gewaltbereitschaft auf einmal spürbar ist.

Die ökonomische Einheit ist sehr gut gelungen in Deutschland, aber die psychologische Einheit ist unter die Räder gekommen.
Bodo Ramelow, Ministerpräsident Thüringen


STOL: Gibt es – mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – immer noch Unterschiede zwischen Ost und West in Deutschland?
Ramelow: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wir haben im Bundesrat vor 2 Monaten die Rentenpunkte Ost und die Rentenpunkte West zu 100 Prozent angeglichen. Dabei wurde aber nicht bedacht, dass es spezielle Rentenfragen gibt, die nicht gelöst wurden: Mithelfende Ehefrauen war ein rentenrechtliches Thema der DDR, das kannte die Bundesrepublik nicht. In einem Bäckereibetrieb etwa, waren beide Teile des Ehepaars, das den Betrieb führt, rentenversichert. Mit der Wiedervereinigung hat dann einer von beiden seine Rente verloren. Das ist bis heute nicht repariert. Und es gibt viele solcher Fälle. Diese Menschen fühlen sich vom Beschluss der Rentengleichheit verhöhnt. Sie sagen, dass wir zwar die Rentenpunkte für die aktuelle Beschäftigte geregelt haben, nicht aber die Fehler der Einigung. Im Bewusstsein vieler Menschen in Ostdeutschland gibt es immer noch ein Gefühl des Abgehängt-Seins. Die ökonomische Einheit ist sehr gut gelungen in Deutschland, aber die psychologische Einheit ist dabei unter die Räder gekommen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (links) im Gespräch mit Arnold Sorg (rechts). - Foto: © DLife



STOL: Ist das auch ein Grund, warum die AfD (Alternative für Deutschland) in Ostdeutschland und speziell in Thüringen so stark ist?
Ramelow: Das ist mit ein Grund. Früher hat dieser Teil der Menschen die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) gewählt, aus der später dann die Linke entstand. Mittlerweile hat die AfD diesen Teil der Bürger geschickter Weise zu sich geholt. Dieses gegen Westdeutschland gerichtete Vokabular führt bei der AfD zu einer Erfolgswelle, wobei sie neben ihren klassischen rechten Wählern auch von ehemaligen PDS- und Linken-Wählern gewählt werden.

Solange niemand gegen das Gesetz verstößt, solange niemandem etwas vorgeworfen werden kann, müssen wir die Maßstäbe, die wir für alle anwenden, nicht dann verbiegen, wenn jemand kommt, der uns nicht passt.
Bodo Ramelow, Ministerpräsident Thüringen


STOL: Die AfD hat bei den jüngsten Kommunalwahlen in Thüringen starke Erfolge eingefahren. Sie haben daraufhin auch die eigene Partei für die Aussage „Alle AfD-Wähler sind Nazis“ harsch kritisiert. Treibt man Wähler Ihrer Meinung nach mit einer solchen Aussagen also womöglich zur AfD?
Ramelow: Auf jeden Fall, man verfestigt sie sogar dort. Ein Vertreter meiner Partei aus Stuttgart hat nach den Wahlen getwittert: Alle Nicht-Deutschen sollen Sonneberg verlassen. Dem habe ich öffentlich geantwortet, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Wie kann man solche Sätze sagen? Damit erreicht man genau das Gegenteil von dem, was man will. Wir dürfen den Rechtsstaat nicht kaputt machen. Solange niemand gegen das Gesetz verstößt, solange niemandem etwas vorgeworfen werden kann, müssen wir die Maßstäbe, die wir für alle anwenden, nicht dann verbiegen, wenn jemand kommt, der uns nicht passt.

„Die Linke vermischt Heimat mit Heimattümelei und nimmt den Begriff als rechtsnationalistisch wahr. Mit dieser Debatte kann ich überhaupt nichts anfangen.“ - Foto: © DLife



STOL: Letzthin wird Ihrer Partei, der Linken oftmals vorgeworfen, dass man sich zu wenig um ihr Kernthema, nämlich um sozial Schwache kümmert, sondern zu viel um Minderheiten. Hat die Linke ein Problem?
Ramelow: Wir haben die Linke vor rund 20 Jahren gegründet und damals enttäuschte Sozialdemokraten und SPD-Wähler aufgefangen. Aber mittlerweile haben wir ein großes Problem, sonst würden wir bei der Sonntagsfrage nicht bei verheerenden 4,9 bis 5,2 Prozent liegen. Wir sind also kurz davor, aus dem Bundestag zu fliegen. Und ein Teil dieses Problems ist die Entwicklung unter Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Zudem gibt es ein Tabuthema, das ich für völlig falsch halte…

STOL: Nämlich?
Ramelow: Das Wort Heimat wird in der Linken in Deutschland nicht benutzt.

STOL: Weil es für die Linke zu rechtskonservativ ist oder warum?
Ramelow: Ja, weil die Linke Heimat vermischt mit Heimattümelei und als rechtsnationalistisch wahrnimmt. Mit dieser Debatte kann ich überhaupt nichts anfangen. Menschen haben eine Sehnsucht nach Heimat. Man kann ihnen dieses Gefühl doch nicht absprechen. Meine Partei wäre gut beraten, sich mehr um praktische Themen zu kümmern. Wenn ich mir die Linke in Deutschland auf Bundesebene anschaue, dann gibt es einen Vorstand, der sich vor allem um Nischenthemen kümmert, die durchaus wichtig sind, aber keinen zentralen Charakter haben. Das ist ein Problem.

„Ideologie und Realpolitik müssen in eine vernünftige Balance gebracht werden.“ - Foto: © DLife



STOL: Die Linke ist also zu ideologisch und zu wenig realpolitisch?
Ramelow: Diesen Satz kann ich so unterschreiben. Es braucht natürlich ein Maß an Ideologie in der Politik. Aber Ideologie und Realpolitik müssen in eine vernünftige Balance gebracht werden.

STOL: Wie gehen Sie als Ministerpräsident von Thüringen damit um?
Ramelow: An jenen Stellen, an denen die Ideologie mich begrenzen würde, erlaube ich mir durchaus deutlich zu agieren. Ich bin etwa im Gegensatz zu meiner Partei für die Waffenlieferung an die Ukraine. Ich leide unter einem Despoten Wladimir Putin. Wenn Linke in Europa die Zuordnung von Imperialismus und Chauvinismus nicht mehr kennen, dann ist das ist für mich nicht mehr tragbar.

STOL: Was meinen Sie konkret?
Ramelow: An dem Tag, als ich im Senat in Polen eine Rede als Bundesratspräsident gehalten habe, hat Sahra Wagenknecht im Bundestag gesagt, dass man mit Russland eine eigene Vereinbarung schließen muss. Wer eine solche Rede hält, der weiß nicht, was das für Warschau, für Polen bedeutet. Die Polen haben den 1. September 1939 noch in Erinnerung, als Deutschland einmarschiert ist, die haben den 17. September 1939 in Erinnerung, als die Sowjets einmarschiert sind. Polen ist von beiden Seiten zerstört worden. Die Menschen in Polen sind von beiden Seiten ermordet worden. Wenn das deutsche Politiker nicht im Kopf haben, dann verstehen sie überhaupt nichts von Mittel- und Osteuropa.

Ein interner Grabenkampf bündelt Kräfte, die man eigentlich für die Vitalisierung einer Partei bräuchte. Südtirol hat nach wie vor eine bemerkenswerte europäische Performance. Daher ist es schade, wenn man das durch interne Streitereien aufs Spiel setzt.
Bodo Ramelow, Ministerpräsident Thüringen


STOL: Die Linke in Deutschland kümmert sich in jüngster Vergangenheit vor allem mit sich selbst. Auch die Regierungspartei in Südtirol, die SVP, tut dies seit einigen Monaten. Was macht das mit einer Partei?
Ramelow: Das ist bedauerlich. Ein solch interner Grabenkampf bündelt Kräfte, die man eigentlich für die Vitalisierung einer Partei bräuchte. Südtirol hat nach wie vor eine bemerkenswerte europäische Performance. Daher ist es schade, wenn man das durch interne Streitereien aufs Spiel setzt.

STOL: Herr Ramelow, was bringt Sie nach Südtirol?
Ramelow: Politisch bin ich über das Unternehmen Dr. Schär und Richard Stampfl und über Alupress schon länger mit Südtirol verbunden. Emotional aber noch länger. Mein erster Besuch ist über 50 Jahre her. Damals bin ich mit meinem Moped nach Südtirol gekommen. Seither bin ich fasziniert von diesem Land. Interessant ist auch: Meine Frau ist aus Parma, aber sie hatte mit Südtirol bislang kaum etwas zu tun. Im ersten Coronajahr fuhr sie aber mit dem Auto nach Hause, da man ja nicht fliegen konnte, und hat in Südtirol Pause gemacht. Und als sie Zuhause ankam, war sie so begeistert von Südtirol und sagte mir, dass sie schon das Hotel für einen kommenden Urlaub gebucht hat. Das war der „Saltauserhof“ in Passeier. Dieses Hotel hat sie auch wegen der Hundefreundlichkeit ausgesucht und das war ausschlaggebend für unseren Hund Attila…

Lilo ist eigentlich der Hund unserer Tochter, aber ich glaube, wir werden wohl die Adoptiveltern werden. Und Lilo fühlt sich wohl hier in Südtirol.
Bodo Ramelow, Ministerpräsident Thüringen


STOL: Für den „First dog von Thüringen“, wie Medien ihn nannten. Für Attila haben Sie auch einen eigenen Twitter-Account angelegt…
Ramelow: So ist es. Den haben wir aber während Corona deaktiviert, weil über diesen Account die wildesten Beschimpfungen über mich getätigt wurden. Für mich selbst war das kein Problem, meine Frau konnte das aber nicht ertragen. Attila gibt es aber seit dem Frühjahr nicht mehr, wir sind jetzt mit unserem neuen Hund Lilo hier im Passeiertal. Das ist eigentlich der Hund unserer Tochter, aber ich glaube, wir werden wohl die Adoptiveltern werden (lacht). Und auch Lilo fühlt sich wohl hier in Südtirol.

Zur Person

Bodo Ramelow wurde 1956 in Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen geboren. Seit 2014 ist er Ministerpräsident des Freistaates Thüringen. Ramelow ist der erste Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes, der der Partei Die Linke angehört. Im kommenden Jahr tritt er erneut bei den Landtagswahlen in Thüringen an. Sein größter Herausforderer ist dabei Björn Höcke von der AfD. Ramelow ist seit November 2006 mit der Germana Alberti vom Hofe aus Parma verheiratet und hat 2 erwachsene Söhne aus erster Ehe.

Alles STOL-Sonntags-Gespräche finden Sie hier im Überblick.

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