Donnerstag, 22. Juni 2023

Probleme mit dem Herdenschutz: Die besondere Situation in Südtirol

Tierarzt Dr. Helmuth Gufler ist Spezialist für das Gesundheitsmanagement kleiner Wiederkäuer. Er räumt im Folgenden mit einige Mythen rund um das Thema Wolf und Herdenschutz auf und erklärt, welche Probleme sich aus den bekanntesten Forderungen ergeben, die Wolfsschützer an Weidetierhalter stellen.

Nicht nur Schafe und Wölfe sind von Herdenschutzmaßnahmen betroffen: In Schutzzäunen können sich Tiere verfangen und im schlimmsten Fall verenden. - Foto: © Sammlung Helmuth Gufler

Der Wolf sei ein sehr scheues Tier, heißt es. Es sei nahezu ein Lottosechser ihn jemals bei Tag zu sehen. Er reiße nur kranke alte Tiere in den Wäldern und sei somit ein Gesundheitspolizist: Tatsächlich ist der Wolf ein äußerst intelligentes, beobachtendes und anpassungsfähiges Tier und infolge seines absoluten Schutzstatus hat sich das Verhalten einiger Wölfe sehr geändert. Sie streunen auch bei Tag herum. Eine Spezialisierung auf das Reißen von (eingezäunten) Nutztieren ist ebenfalls zu beobachten. Von den Tierhaltern wird gefordert, dass sie ihre Tiere schützen sollen – mit Zäunen, Herdenschutzhunden, und durch Einstallen.

Einige Forderungen aus sozialen Medien bzw. von „Wolfsorganisationen“, aber auch von der Politik, sind zwar gut gemeint und in einigen Gebieten durchaus kurzzeitig durchführbar; in Kulturgegenden sind sie aber wegen der geografisch-geologischen Gegebenheiten bzw. der fortgeschrittenen Zivilisation vielfach nicht umsetzbar.

Tierarzt Dr. Helmuth Gufler erklärt, warum die Forderungen, die Wolfsbefürworter an Bauern richten, nicht umsetzbar sind.

Forderung 1: „Die Landwirte müssen ihre Tiere einzäunen“

Durch das großflächige Einzäunen von Weiden bzw. Almen kommt es unweigerlich zu gravierenden Folgeerscheinungen. Auf die Sinnhaftigkeit, die Praktikabilität, die Kosten und den Arbeitsaufwand soll an dieser Stelle gar nicht eingegangen werden. Der Fehler dieser Experten ist meist der, dass sie nichts zu Ende denken. Sie sehen nur den Zaun und nicht die Dinge rundherum.

Verzweifelter Kampf gegen das Netz: Zäune sind für Wildtiere ein gefährliches Hindernis. - Foto: © Sammlung Helmuth Gufler



Jeder, der nach Sonnenuntergang auf der Alm unterwegs ist, weiß, wie lebendig es dann wird: Sämtliche Wildtiere wie Gämsen, Rehe, Steinböcke, Hasen und Federvieh kommen hervor um zu äsen. Aus veterinärmedizinischer Sicht müssen auch diese Wildtiere berücksichtigt werden. Die errichteten Zäune können für das freilebende Wild bzw. die Flugvögel, aber auch für viele Kriechtiere wie Fallen sein. Im besten Fall reißen sie den Zaun nieder, im schlimmsten Fall verenden sie darin qualvoll.

Dieser Hase hatte sich nachts in einem Elektrozaun verfangen, der eine Heimweide umzäunte. - Foto: © Willi Innerhofer

Forderung 2: „Die Tierhalter müssen ihre Tiere über Nacht einstallen“

Das geforderte Einstallen bzw. Einpferchen auf Almen über Nacht ist aus tierärztlicher Sicht kritisch zu hinterfragen: Erstens bedeutet das tägliche Zusammentreiben der Tiere eine erhebliche Stressbelastung für die Tiere selbst, hinzu können stressbedingt weitere gravierende Folgen auftreten: etwa das Verlammen.

Zweitens kann es durch das Zusammentreiben bei der Sommerhitze vielfach zu Hitzestauungen kommen, und Herz-Kreislauf-Versagen von Weidetieren ist nicht auszuschließen

Drittens fördert das Zusammenpferchen von Tieren auf engem Raum die Ausbreitung von Krankheiten wie z. B. Moderhinke bei den Schafen.

Viertens weiß man aus Gegenden, wo Weidetiere nachts eingepfercht waren, dass der Wolf dann eben seine Angriffe auf den Tag verlegt.

Forderung 3: „Neue Beweidungsstrategien anwenden“

„Die Weidetiere sollen nicht mehr großflächig freiläufig weiden, sondern gezielt kleinflächig mittels Abzäunen bzw. Behirtung weiden, wodurch die Herden übersichtlicher sind. Nach einer bestimmten Zeit wird der Weidezaun weiterverlegt usw.“: Aus tierärztlicher Sicht ist die bessere Beobachtungsmöglichkeit durch Hirten auf jeden Fall begrüßenswert. Der Arbeitsaufwand durch das ständige Weiterzäunen ist natürlich weit höher und somit auch die Kosten.

Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass das Verweilen der Tiere auf engem Raum mit weniger Weidefläche die Tiere zwingt, tiefer zu grasen. Damit nehmen sie gleichzeitig mehr im Boden vorhandene Parasiten auf. Abmagerungen und Durchfall sind die Folgen. Insbesondere bei Ziegen ist nachweislich bekannt, dass es durch langjähriges Einzäunen zu akuten Todesfällen kommt, die sogenannte Clostridiose. Häufigere Entwurmungen bzw. höherer Medikamenteneinsatz wären die Folgen, was jedoch sowohl aus tierärztlicher Sicht als auch Sicht des Konsumenten nicht zu begrüßen ist.

Forderung 4: „Eine ständige Behirtung ist die Lösung von Raubtierangriffen“

Es ist zu unterscheiden zwischen einer Behirtung, deren Ziel es ist, dass die gealpten Tiere die sicheren Almflächen nicht verlassen, und einer Behirtung, die die gealpten Tiere vor Raubtieren schützen soll.

In den letzten Jahrzehnten wurden viele Almflächen bzw. Teile davon mit einfachen, aber wirkungsvollen Elektrozäunen eingezäunt, sodass effektiv weniger Hirten für die tägliche Aufsicht der gealpten Tiere benötigt wurden. Eine Alm ohne Hirten ist jedoch nach wie vor unvorstellbar, auch aus tierärztlicher Sicht. Täglich werden die Tiere kontrolliert.

Die Forderung nach mehr Hirten ist aus tierärztlicher Sicht generell sehr zu begrüßen. Die Anforderungen an einen Hirten sind groß und werden zumeist unterschätzt. Fundierte Kenntnisse der Beweidung, des Geländes, der klimatischen Verhältnisse und der sorgfältige Umgang mit Tieren sind Grundvoraussetzung. Diese können auch in Kursen teilweise erlernt werden.

Was aber selten erlernt werden kann, ist die Fähigkeit, über Monate hinweg in teilweiser Einsamkeit und bei jedem Wetter in der Natur zu bleiben. Diese Fähigkeit bzw. Gabe haben wenige Menschen. Hohe Bezahlung oder Kurse können sie nicht hervorzaubern.

Solch fähige Hirten kommen aus Hirtenfamilien. Diese Hirten sind von klein auf auf einer Alm gewesen und haben dieses Bewusstsein vererbt bekommen. Ein guter Hirte ist 24 Stunden am Tag auf der Alm und bei jedem Wetter bei seinen Tieren, eine Aufgabe, die verständlicherweise nicht jedem zugemutet werden kann.

Letztendlich ist aber auch der beste Hirte machtlos gegen Angriffe von Wölfen, da diese meist in der Nacht aktiv sind. Werden die Tiere nachts eingestallt, ändert der Wolf schlussendlich seine Strategie und tätigt die Angriffe tagsüber, da er beobachtet hat, dass ihm vom waffenlosen Hirten nichts geschieht.

Forderung 5: „Der Einsatz von Herdenschutzhunden löst das Problem“

Der Einsatz von Herdenschutzhunden mag durchaus in Ländern funktionieren, wo diese Hunde seit jeher gezüchtet wurden. Dort liegen jedoch ganz andere Voraussetzungen vor – etwa die ganzjährige Weidehaltung von einzelnen großen Herden in abgeschiedenen Gegenden. Und vor allem: In jenen Gebieten gibt es noch den echten scheuen Wolf, der Konflikte mit dem Menschen bzw. den Hunden meidet, da er eben „bejagt“ wird.

Warum in den Alpen der Herdenschutz nicht funktioniert wie andernorts

In Südtirol bzw. im Alpengebiet liegen jedoch völlig andere geografisch-geologisch-kulturelle Gegebenheiten vor, sodass diese Forderung generell als nicht hilfreich angesehen werden kann und im nachfolgenden Text begründet werden kann:

In Südtirol sind die Schafe und Ziegen zwar viele Monate auf den Almen, in den Wintermonaten wegen der klimatischen Verhältnissen jedoch im Stall bzw. in Stallnähe. Die Herdenschutzhunde sind es jedoch gewohnt, sich ganzjährig zu bewegen bzw. zu arbeiten. Das Herumliegen im Stall bzw. die Unterbeschäftigung über einen dermaßen langen Zeitraum (ca. 6 Monate) ist für diese Hunde nicht artgerecht.

Weiters ist zu berücksichtigen, dass in Südtirol der Almtourismus und die Wanderfreude sehr ausgeprägt ist. Nur sehr gut ausgebildete Herdenschutzhunde können Wanderer von Eindringlingen unterscheiden. Bissattacken können daher nicht ausgeschlossen werden. Es ist bekannt, dass Herdenschutzhunde insbesondere bei Wolfspräsenz noch aggressiver reagieren, da sie bereits gestresst sind. Viele Wanderer führen Hunde mit, sodass Kämpfe zwischen Hunden und Herdenschutzhunden nicht ausgeschlossen werden können, was aus Tierschutzgründen wiederum nicht zu rechtfertigen ist.

Eine weitere Besonderheit in Südtirol ist, dass es kaum riesige Einzelweiden gibt, wie in den Gebieten, wo die Herdenschutzhunde gezüchtet wurden. In Südtirol bringen viele Kleinbetriebe ihre Tiere auf Gemeinschaftsalmen. Dort weiden die Schafe in kleinen Gruppen mit etwas Abstand zu den anderen Herden. Da die Herdenschutzhunde jedoch nur ihre eigene Herde schützen, mit denen sie von klein auf aufgewachsen sind, bräuchte es auf den Südtiroler Gemeinschaftsalmen eine Vielzahl von Herdenschutzhunden. Bei dieser Vielzahl an Herdenschutzhunden können Konflikte unter den Herdenschutzhunden selbst nicht ausgeschlossen werden und sind somit aus Tierschutzgründen nicht zu begrüßen.

Letztendlich ist ein vorprogrammiertes Kämpfen zwischen Herdenschutzhunden und Wölfen aus ethischer und tiermedizinischer Sicht kategorisch abzulehnen.

Aus tiermedizinischer Sicht ist die Forderung nach Herdenschutzmaßnahmen aus den vorher beschrieben Gründen kritisch zu hinterfragen bzw. teilweise sogar als nicht tiergerecht einzustufen. Die Wertschätzung einer kompetenten Behirtung ist auf jeden Fall zu begrüßen.

Dr. Helmuth Gufler

Tierarzt und Diplomate of the European College for Small Ruminant Health Management


Am morgigen Freitag lesen Sie im nächsten Beitrag von Dr. Helmuth Gufler: „Die Problematik des absoluten Schutzstatus beim Wolf“.








stol

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