Sonntag, 26. November 2023

„Wir leben in einer Kultur des Schweigens und das müssen wir durchbrechen“

„Viel wird von Frauen geduldet und erduldet“, sagt Julia Ganterer. Im Rahmen eines Forschungsprojektes hat sich die Südtiroler Wissenschaftlerin mit Gewalt gegen Frauen beschäftigt und 8 Betroffene interviewt. Nun ist daraus ein Buch entstanden, das ihnen eine Stimme gibt und zeigt, wie sie es geschafft haben, sich aus der Gewaltsituation zu befreien.

„Wie ist es möglich, dass immer wieder Gewalt gegen Frauen geschieht und niemand darüber spricht?“ Ein neues Buch versucht Antworten zu geben. - Foto: © Shutterstock / shutterstock

Von:
Teresa Klotzner
Welche Wege aus der Gewalt haben die von Ihnen befragten Frauen gefunden?
Julia Ganterer: Da haben sehr viele Bereiche eine Rolle gespielt. Ein Weg war die professionelle Unterstützung der Frauenhausmitarbeiter und Frauenhausmitarbeiterinnen, die sie betreuten – nicht nur einen kurzen Moment lang, sondern über Jahre. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen waren eine weitere Stütze, sie halfen bei Schwierigkeiten, wie etwa die Rechtsberatung. Und dann natürlich Vertrauenspersonen, die ihre Geschichte geglaubt haben, die zur Seite gestanden sind, also nahestehende Verwandte oder gute Freunde und Freundinnen.

Die Betroffenen sammelten aber nicht immer positive Erfahrungen, z. B. bei Gericht...
Ganterer: Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft, die von Vorbehalten und alten Strukturen geprägt ist. Danach sind auch Gerichte und das Justizwesen aufgebaut. Da fehlt die Sensibilisierung und die Aufklärung.

Wir haben keine Sprache für Gewalt, denn wir lernen nicht, über sie zu sprechen.
Julia Ganterer


Wird Gewalt allgemein viel zu wenig thematisiert?
Ganterer: Auf alle Fälle. Wir haben keine Sprache für Gewalt, denn wir lernen nicht, über sie zu sprechen. Dasselbe gilt für andere tabuisierte Themen wie Sexualität oder Geld. Uns fehlt das Vokabular. Das hängt auch damit zusammen, dass gewaltvolle Ereignisse, wie etwa der Zweite Weltkrieg, nicht aufgearbeitet worden sind. Wir leben in einer Kultur des Schweigens, und das müssen wir durchbrechen. Erst wenn wir lernen, über bestimmte Dinge zu sprechen, können wir sensibilisiert werden.

Die Dunkelziffer der Gewalterleidenden ist hoch.
Julia Ganterer


Viele Betroffenen schämen sich, sind still...
Ganterer: Die Dunkelziffer der Gewalterleidenden ist hoch. Bei fast allen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, fiel der Satz „Geht schon“. Viel wird geduldet und erduldet. Man muss die „perfekte“ Familie repräsentieren, man ist in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis drinnen. Oft fühlt man sich ohnmächtig, die Person zu verlassen, ist schwierig, noch dazu mit Kindern. Bei finanzieller Abhängigkeit, wo geht man hin? Dazu kommt die Gesetzeslage: Der Vater hat das Recht, die Kinder zu sehen. Die Mutter muss dafür Sorge tragen, obwohl er sie misshandelt hat.

Welche Rolle spielt das Frauen- und Familienbild in Südtirol?
Ganterer: Die traditionellen Rollenbilder sind noch stark verhaftet, vor allem mit Stereotypen und Klischees. Sie beruhen auf sexistischem Verhalten oder ungleichen Machtverhältnissen. Das ist auch unserer Tradition, unserem Wertesystem, dem Katholizismus geschuldet. Dazu kommen die geografischen Begebenheiten: die Berge und die Kleinstrukturiertheit. Jeder und jede kennt jeden, nichts Schlechtes über die Familie darf nach außen dringen.

Wir fallen in alte Strukturen zurück und befinden uns jetzt im Rückschritt anstatt im Fortschritt.
Julia Ganterer


Und es bessert sich nur wenig, denn die Gewalt gegen Frauen nimmt zu...
Ganterer: Man muss hoffnungsvoll sein. In den vergangenen Jahrzehnten gab es positive Entwicklungen. Im Moment rutschen wir von einer Krise in die nächste, das widerspiegelt sich in der Gesellschaft. Wir fallen in alte Strukturen zurück und befinden uns jetzt im Rückschritt anstatt im Fortschritt.

Was kann man unternehmen, um die patriarchalen Strukturen zu durchbrechen?
Ganterer: Auf gesellschaftlicher Ebene spielt das Bildungssystem die wichtigste Rolle. Dann ist die Politik gefragt, aber sie ändert die Dinge nur gesetzlich, wenn die Gesellschaft rebelliert. Deshalb sollten wir alle laut werden. Die Politik muss auch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Aber viele Politiker und Politikerinnen denken nur in Amtsperioden, das Langfristige fehlt.

Was fehlt hierzulande noch neben den finanziellen Mitteln?
Ganterer: In Südtirol gibt es viele einzelne Vereine, die sich für Gewalt gegen Frauen engagieren. Es mangelt aber an gegenseitiger Vernetzung und Zusammenarbeit.

Das wichtigste überhaupt ist, Vertrauen schenken und zu glauben.
Julia Ganterer


Wir sind alle ein Teil des strukturellen Systems. Was kann jeder Einzelne und jede Einzelne zur Überwindung beisteuern?
Ganterer: Hinsehen, hinhören, achtsam sein. Nicht wegschauen, sondern den Mut haben, nachzufragen. Man kann auch bei Experten und Expertinnen, z. B. Frauenhausmitarbeiter und Frauenhausmitarbeiterinnen, anrufen und um Expertise fragen, wenn man etwa einen Verdacht hat. Sei es betroffene Kinder oder Erwachsene, in gewisser Art und Weise sprechen sie darüber, denn Gewalt zeigt sich. Das wichtigste überhaupt ist, Vertrauen schenken und zu glauben.

Julia Ganterer lehrt und forscht seit Jahren auf dem Gebiet der geschlechtsspezifischen Gewalt. Zurzeit ist sie an der Durchführung einer Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol beteiligt. Hierfür werden auch noch Teilnehmer und Teilnehmerinnen gesucht.

Frauen enttabuisieren das Sprechen über Gewalterfahrungen: Das Buch ist in der Edition Raetia erschienen und für 22 Euro im Buchhandel erhältlich.


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