Montag, 29. Mai 2023

Herr Achammer, muss die Schule jetzt die Erziehung übernehmen?

Anfang Mai haben über 1000 Südtiroler Lehrpersonen mit der Petition „Schule in Not“ Alarm geschlagen: Bestimmte Umstände im Unterrichtsalltag seien nicht mehr tragbar, heißt es darin. Letzthin keimte auch eine Diskussion um sogenannte „Brennpunktschulen“ auf. Nun meldet sich Bildungslandesrat Philipp Achammer zu Wort: Schulen und Kindergärten könnten nicht die Erziehung der Eltern übernehmen. „Besonders bei den problematischen Fällen müssen wir immer mehr feststellen, dass das Elternhaus de facto fehlt“, sagt Achammer im STOL-Interview. Ein Gespräch mit dem Bildungslandesrat.

Philipp Achammer: „Besonders bei den problematischen Fällen müssen wir immer mehr feststellen, dass das Elternhaus de facto fehlt.“ - Foto: © ANSA / ANSA/US SVP

Von:
Arnold Sorg
STOL: Herr Achammer, „Schule in Not“, „Brennpunktschulen“: Derzeit wird viel über die Situation an Südtirols Schulen diskutiert - von sozialen Spannungen bis hin zu untragbaren Zuständen für die Lehrpersonen. Was sagen Sie als Bildungslandesrat dazu?
Philipp Achammer: In dieser Diskussion wurden zuletzt viele Faktoren zusammengewürfelt, auch solche, die man schwerlich vermischen kann.

STOL: Nämlich?
Achammer: Zuerst waren es sprachliche und kulturelle Faktoren, dann soziale, zuletzt wurden sogar Jugendliche mit Behinderungen ins Feld geführt.

Während vor 3 Jahren noch die Rede davon war, dass die Gesellschaft durch die Corona-Krise zu einem größeren Zusammenhalt finden würde, müssen wir immer mehr das Gegenteil feststellen.
Philipp Achammer, Bildungslandesrat


STOL: Sie sagen, all diese Faktoren können in der aktuellen Diskussion nicht in einem Atemzug genannt werden. Es muss aber doch einen Grund für diese Diskussion und das Unbehagen der Lehrpersonen geben?
Achammer: Die Schule ist immer ein Spiegelbild einer gesellschaftlichen Entwicklung. Und derzeit spüren wir eine gesellschaftliche Zerrissenheit und Unsicherheit wie selten zuvor. Und das spiegelt sich in der Schule natürlich wider.

STOL: Sie sprechen von einer gesellschaftlichen Zerrissenheit. Was genau können wir darunter verstehen?
Achammer: Während vor 3 Jahren noch die Rede davon war, dass die Gesellschaft durch die Corona-Krise zu einem größeren Zusammenhalt finden würde, müssen wir immer mehr das Gegenteil feststellen. Die Krisen der vergangenen 3 Jahre – Pandemie, Krieg in Europa, Teuerung – haben Probleme an die Oberfläche gespült, die wahrscheinlich schon vorher da waren, nun aber viel stärker präsent sind. Und diese Spannung in der Bevölkerung, diese Gereiztheit, diese dauernde Unsicherheit, das ist natürlich auch bei Kindern und Jugendlichen in den Schulen zu spüren. Und daher kommt es vermehrt zu gewissen Problematiken. Das ist aber nicht der einzige Grund.

Kinder brauchen im Wachsen und Erwachsenwerden ihre Eltern - wenn diese nicht präsent sind, leiden diese Kinder natürlich und oft führt dies zu Auffälligkeiten.
Philipp Achammer, Bildungslandesrat



STOL: Sondern?
Achammer: Besonders bei den problematischen Fällen müssen wir immer mehr feststellen, dass das Elternhaus de facto fehlt. Dies führt in der Folge dazu, dass Kindergärten und Schulen automatisch immer öfter Aufgaben übernehmen sollten, die im engeren Sinne nicht jene von Kindergärten und Schulen sind. Kinder brauchen im Wachsen und Erwachsenwerden ihre Eltern - wenn diese nicht präsent sind, leiden diese Kinder natürlich und oft führt dies zu Auffälligkeiten.

STOL: Die Schulen und Kindergärten müssen also vielfach die Erziehungsaufgaben der Eltern übernehmen?
Achammer: In bestimmten Situationen ja, entweder weil die Eltern fehlen oder einige glauben, ihre Erziehungsaufgaben an die Schulen weiter zu delegieren, nach einer gewissen „Bestellmentalität“. Kindergärten und Schulen können und sollen aber Eltern nicht ersetzen, Bildung ist immer eine geteilte Verantwortung. Natürlich gibt es Fälle, in denen die Familien überfordert sind, da muss man helfen. Aber noch einmal, irgendwann muss klar gesagt werden - auch wenn es ungemütlich sein sollte - dass jeder seine Aufgabe wahrzunehmen hat.

Wir müssen vom Elternhaus bestimmte Verpflichtungen schlichtweg einforden.
Philipp Achammer, Bildungslandesrat



STOL: Was wollen Sie tun, damit die Schule wieder aus dieser Situation herauskommt? Die Lehrer fordern, dass an den sogenannten „Brennpunktschulen“ mehr Personal eingestellt wird…
Achammer: Wo es möglich ist, müssen vom Elternhaus bestimmte Verpflichtungen schlichtweg eingefordert werden. Nehmen wir die Sprachdiskussion her: Wenn es um die Sprache geht, dann müssen wir von den Eltern verlangen können, auch gesetzlich, dass sie das eigene Kind in der Bildungssprache begleiten. Anders wird es nicht funktionieren. Und in den problematischen Situationen muss die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt werden: Neben dem Elternhaus und der Schule sind es, wo nötig, auch die Sozialdienste, die außerschulische Jugendarbeit und andere.

STOL: Und was ist mit der Forderung der Lehrer nach mehr Personal in den sogenannten „Brennpunktschulen“?
Achammer: Das tun wir und werden wir künftig noch mehr tun. In „Brennpunktschulen“ ist es schon jetzt der Fall, dass wir deutlich mehr Lehrerstellen zuweisen, auch die Schulsozialarbeit ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich aufgebaut worden. Aber ich sage es noch einmal, man kann nicht die gesamte Last den Kindergärten und den Schulen überlassen. Eltern sind in schwierigen Situationen in die Pflicht zu nehmen; wo die Familie überfordert ist, müssen wir hingegen mit den Sozialdiensten zusammenarbeiten.

Es muss eine laufende Professionalisierung in solchen Situationen geben.
Philipp Achammer, Bildungslandesrat



STOL: Diese sogenannten „Brennpunktschulen“ gibt es vor allem in den städtischen Bereichen. Viele Lehrer wechseln bereits nach wenigen Jahren die Schule. Was tut man dagegen?
Achammer: Es stimmt, dass in diesen Schulen die Fluktuation groß ist, daher arbeiten wir derzeit an finanziellen und karrieretechnischen Anreizen für die Lehrpersonen an solchen Schulen. Es ist nämlich nicht gut, wenn beim Lehrpersonal an einer Schule und ganz besonders an komplexen keine Kontinuität herrscht. Denn es muss eine laufende Professionalisierung in solchen Situationen geben.

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