Donnerstag, 10. August 2023

Nach Mord in Rovereto: „Psychische Erkrankungen ernster nehmen“

Nach dem Mord in Rovereto gibt es im Trentino eine Diskussion über den Zustand der psychiatrischen Versorgung: Der Psychiater Ezio Bincoletto sagt in der Tageszeitung „l'Adige“, die Schließung der psychiatrischen Anstalten in Italien sei ein Fehler gewesen. Sein Südtiroler Kollege Roger Pycha sieht das anders: „Die Schließung der damaligen Irrenhäuser war revolutionär. Nur die Umsetzung war nicht ganz gut.“ In der Versorgung psychisch Kranker klaffe eine große Lücke.

Wichtig in solchen Fällen zu unterscheiden: Nicht jeder Mensch, der gewalttätig wird, hat ein psychiatrisches Problem. Und längst nicht jeder psychiatrische Patient hat ein Problem mit Gewalttätigkeit. - Foto: © shutterstock

Nach dem Mord an Iris Setti (60) in Rovereto tun sich viele Fragen auf: Hätte der Mord vermieden werden können? Wenn ja – wie? Der Täter Nweke Chukwuka (37) sei mehrmals auffällig geworden und psychisch krank gewesen, heißt es; trotz seiner Vorgeschichte und expliziter Warnungen aus seinem Umfeld sei er nicht in einer geschlossenen Einrichtung untergekommen: Seine Schwester etwa hatte nach eigenen Angaben darauf gepocht, dass er in Arco in die Psychiatrie eingewiesen würde. „Sie sagten mir, die einzige Möglichkeit sei eine Zwangsbehandlung bzw. -einweisung. Darum haben wir so oft angesucht, aber es nie passiert“, so Anthonia Uchechukwu Nweke.

War es ein Fehler, Anstalten zu schließen?

Der Psychiater Ezio Bincoletto, der als Gutachter für die Staatsanwaltschaften von Rovereto und Trient tätig ist, hat in der örtlichen Presse seinen Standpunkt vertreten, die Schließung der psychiatrischen Anstalten in Italien vor über 40 Jahren sei ein großer Fehler gewesen. Psychisch Kranke seien von da an nicht mehr richtig versorgt worden.

Ausschnitt aus dem „l'Adige“, Ausgabe 10. August.


Mit dem „Basaglia-Gesetz“ wurden 1978 in Italien sämtliche Sondereinrichtungen und psychiatrische Anstalten geschlossen. Immer wieder werden in Italien Rufe nach einer Überarbeitung des Gesetzes laut.

Zwangsbehandlung fast nicht möglich

Der Südtiroler Psychiater Roger Pycha stimmt zu, dass psychisch Kranke nicht immer versorgt würden und deswegen unter Umständen auch zur Gefahr werden könnten. „Diese Kritik muss sich Italien gefallen lassen. Es ist nämlich sehr schwierig, jemanden in Zwangsbehandlung zu stellen. Es passiert fast nie“, sagt er. Das sei ein Vorteil, weil Menschen sehr frei leben könnten, aber auch ein Nachteil, wenn es zu Vorfällen wie kürzlich in Rovereto komme.

Trotzdem sieht Pycha die psychiatrische Reform von Basaglia im Jahr 1978 als revolutionär: „Italien ist das einzige Land der Welt, wo die Psychiatrie durch das Gesetz von Basaglia radikal reformiert wurde. Plötzlich wurden alle Anstalten geschlossen und die Insassen nach Hause geschickt.“

Zu dem Zeitpunkt gab es nämlich schon Medikamente und Therapien, mit denen man psychische Krankheiten auch außerhalb des Krankenhauses behandeln konnte. „Basaglia wollte mit der Reform verhindern, dass die damals so genannten Irrenhäuser die Patienten noch kränker machen und schloss sie kurzerhand. Nur mehr kleine psychiatrische Einrichtungen in den regulären Krankenhäusern waren mit maximal 15 Betten erlaubt“, erläutert Pycha.

Viele Patienten konnten nicht mehr richtig versorgt werden

„Der Reformgedanke war super und ein ganz großer Wurf. Das Problem war aber, dass er so plötzlich kam. Es war in so kurzer Zeit nicht möglich, an den regulären Krankenhäusern genug Psychiatrien einzurichten. Nur in ganz wenigen Orten, wie zum Beispiel Triest oder Görz/Gorizia war man darauf vorbereitet. Die psychisch Kranken mussten deswegen oft daheim behandelt werden. Manche wurden obdachlos, andere kamen sogar ins Gefängnis“, erklärt Pycha.


Wir brauchen dringend einen Ausbau unserer Psychiatrien.
Dr. Roger Pycha



Mittlerweile habe Italien das Problem besser im Griff. Doch noch immer klaffe eine Lücke in der Versorgung: Die Weltgesundheitsorganisation fordert ein psychiatrisches Akutbett pro 2000 Einwohner. In Italien gebe es aber nur ein solches Bett pro 10.000 Einwohner. „Patienten werden deswegen viel zu früh entlassen und oft rückfällig“, sagt Pycha.

Psychische Erkrankungen von Gesellschaft nicht ernst genommen

Psychische Erkrankungen würden von der Gesellschaft noch immer zu wenig ernst genommen. In Südtirol gebe es erst seit rund 20 Jahren eine Besserung. „Mit einem Landesgesetz im Jahr 1996 haben wir die Südtiroler Psychiatrie geplant. Dieser Plan wurde aber noch immer nicht gänzlich umgesetzt. Wir sind hinten, weil psychisch Kranke keine Lobby haben und die Gesellschaft nicht gerne viel Geld in Psychiatrien steckt.“

„Wir brauchen dringend einen Ausbau unserer Psychiatrien und mehr Wohnheime, Tageszentren und Rehazentren. Eine humanitäre Gesellschaft sollte sich das unbedingt leisten“, sagt Pycha.

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teo

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