Montag, 11. Dezember 2023

Südtirols Kunst- und Kulturschaffende: „Es ist noch nicht zu spät“

195 Kunst- und Kulturschaffende aus Südtirol haben sich in einem offenen Brief gegen die Koalition der SVP mit den Parteien aus dem rechten Spektrum positioniert.

: Südtiroler Kunst- und Kulturschaffenden haben einen offenen Brief an Landeshauptmann Arno Kompatscher und die Südtiroler Volkspartei gerichtet. - Foto: © Shutterstock / shutterstock

Der Brief ist eine Reaktion auf die Entscheidung der SVP, in Koalitionsverhandlungen mit Lega und Fratelli d'Italia zu treten. Die unterzeichnenden Kulturschaffenden äußern darin ihre Besorgnis über diese Entwicklung und betonen die Bedeutung von Werten wie Solidarität, Vertrauen und Diversität sowie von demokratischen Prinzipien in der politischen Gestaltung einer offenen und zukunftsfähigen Gesellschaft.

„Wir glauben, dass es wichtig ist, unsere Stimmen zu erheben und uns gegen jegliche Form von Extremismus, Radikalisierung und Polarisierung zu positionieren. Die Kultur hat eine bedeutende Rolle bei der Förderung des Verbindenden, des Dialogs und des Respekts, dem Schutz der Menschenrechte und unserer Lebensgrundlagen“, schreibt PERFAS-Präsident Peter Schorn in Vertretung der Initiativgruppe des Offenen Briefes.

Zu den unterzeichnenden Kunst- und Kulturschaffenden gehören sowohl namhafte Einzelkünstler quer durch alle Disziplinen sowie Kulturarbeitende, die in den führenden Südtiroler Kunst- und Kulturorganisationen und Institutionen sowie an den relevanten Schnittstellen tätig sind.

Der offene Brief im Wortlaut

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Arno Kompatscher,
geschätzte Entscheidungsträger:innen in der Südtiroler Volkspartei,

als Kunst- und Kulturschaffende setzen wir uns tagtäglich in unserer Arbeit für eine offene, solidarische und gerechtere Gesellschaft ein – gegen Polarisierung und Radikalisierung. Zu den unverrückbaren Werten, denen wir uns verbunden fühlen, gehören der Schutz der Menschenrechte ebenso wie der Schutz unserer Existenzgrundlagen und unserer Mitwelt.

Ihre Entscheidung, Koalitionsverhandlungen mit Parteien aufzunehmen, die teils offen rechtsextreme, nationalistische, antieuropäische, wissenschaftsleugnende, antifeministische, homophobe und rassistische Positionen vertreten, steht aus unserer Sicht in fundamentalem Widerspruch zu all diesen Werten und ist nicht vereinbar mit dem Ziel einer zukunftsfähigen, diversen, vertrauensvollen Gesellschaft, die unsere Lebensgrundlagen achtet und schützt.

Fratelli d’Italia verfolgen eine unverhohlen neofaschistische und nationalistische Politik – die Rhetorik ist autoritär, patriarchal und militaristisch, anstelle des „Staates“ wird von der „Nation“ gesprochen und eine glaubwürdige Distanzierung vom Faschismus, der Europa an den Rand des Abgrunds gebracht hat, fehlt. Sie verfolgen eine rechtskonservative, antifeministische und queerfeindliche Familienpolitik, geprägt von regressiven patriarchalen Geschlechterrollen. Aktuell geht das italienische Innenministerium etwa offen gegen die gleichberechtigte Elternschaft gleichgeschlechtlicher
Paare vor.

Fratelli d’Italia verfolgen eine antieuropäische Politik: sie gehören in Europa zur Rechts-Außen-Parteienfamilie ECR (gemeinsam mit rechtspopulistischen und europaskeptischen Parteien wie der spanischen VOX oder den Schwedendemokraten), die eine „Orbanisierung“ Europas
vorantreiben und es nach Einschätzung von Fachleuten erschweren, im Europäischen Rat Mehrheiten für Klimapolitik oder für Rechtsstaatlichkeit zu gewinnen.

Fratelli d’Italia verfolgen eine menschenrechtsfeindliche Migrations- und Sozialpolitik und eine kunstfeindliche Kulturpolitik. Erst vor wenigen Wochen hat die Regierung Meloni ein fundamentales Instrument zur sozialen Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern (die „Indennità di discontinuità“) de facto abgeschafft. Die Abgeordnete der Fratelli d’Italia im neu gewählten Südtiroler Landtag leugnet offen den
menschengemachten Klimawandel und hat sich von einer wissenschaftsbasierten Argumentation weit entfernt.

Die Lega gehört mit rassistischen, homophoben, islamophoben, chauvinistischen und antieuropäischen Positionen und einem inakzeptablen Naheverhältnis zu Putin auf europäischer Ebene zur
rechtsextremen Parteienfamilie ID („Identität und Demokratie“) – gemeinsam mit der deutschen AfD und Marine Le Pens Rassemblement National. Und ganz oben auf der Agenda der Freiheitlichen steht die Einschränkung der Mehrsprachigkeit an Südtirols Schulen mit ausschließlich muttersprachlichem Fachunterricht.

Vor dem Hintergrund dieser exemplarischen Ausschnitte ist für uns nicht erkennbar, wie mit diesen Parteien in den kommenden 5 Jahren die nötigen Weichen für ein zukunftsfähiges Südtirol gestellt werden können. Wir stehen vor ungeahnten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen. Wer denkt, die Klimakrise könne noch 5 Jahre warten und die Arbeit für eine enkeltaugliche und gerechtere Gesellschaft sei jetzt nachrangig, ist in einem folgenschweren Irrtum.

Die Vereinten Nationen 2 haben erst vor wenigen Tagen wieder eindringlich gewarnt: wir sind auf dem Weg in eine 3 Grad heißere Welt. In einer solchen Welt wollen wir nicht leben. Auch ein kleines Land wie Südtirol würde sich in einer solchen Welt den katastrophalen Folgen einer globalen Destabilisierung unserer Ökosysteme, unserer Wirtschaft und unseres sozialen Gefüges nicht entziehen können.

Wir stehen am Scheideweg. Wir stehen nicht einfach nur vor der Wahl zwischen einer weiteren Mitte-Links-Regierung oder einer weiteren Mitte-Rechts-(Extremen)-Regierung, wir stehen vor der Wahl zwischen einer zukunftsgewandten, verbindenden Politik im Interesse des Gemeinwohls und einer rückwärts gewandten Politik, die unsere globalen und regionalen Probleme weiter verschärft.

Sehr geehrter Herr Kompatscher, geschätzte Entscheidungsträger:innen in der Südtiroler Volkspartei: Unsere Autonomie und ihr Ausbau ist auch uns wichtig, aber sie darf nicht mit Zugeständnissen an die klar ersichtlichen Agenden der Rechtspopulisten erkauft werden. Nicht mit Spaltung und Polarisierung und nicht mit dem Verlust des sozialen Friedens und Zusammenhalts. Nicht mit unserer Zukunft.

Wir fordern Sie auf, jetzt nicht die Augen zu verschließen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Werden Sie Ihrer Verantwortung für Südtirol gerecht und beenden Sie dieses Spiel mit dem Feuer. Seien Sie nicht der Türöffner für rechtsextreme Parteien, die sich außerhalb der demokratischen Grundordnung bewegen und damit den Grundkonsens unseres Gemeinwesens gefährden.

Fügen Sie sich nicht in einen leidenschaftslosen Opportunismus, kämpfen Sie für unsere gemeinsame Zukunft! Wie die Löwinnen. Stellen Sie die nötigen Weichen, um den großen Herausforderungen unserer Zeit zukunftstauglich und verantwortungsvoll zu begegnen. Investieren Sie in Vertrauen. Das ist losgelöst von Werten und Prinzipien nicht zu haben. Bilden Sie jetzt aktiv Mehrheiten, die die soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, für die Sie angetreten sind, glaubwürdig vertreten und umsetzen können. Und wollen. Wählen Sie ein klares und starkes Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie und Europa, zu Frauenrechten, Minderheitenrechten, zum Schutz unserer Lebensgrundlagen und zum Klimaschutz. Wählen Sie eine vertrauensvolle, offene, solidarische und resiliente Zukunft für uns alle. „In Vielfalt geeint“.


Dieser offene Brief wurde von 195 Südtiroler Kunst- und Kulturschaffenden unterzeichnet.

pho

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